Ein Fräulein erwacht in einer fremden Wohnung
Sie schmeckt mir nicht, die so geliebte Morgenzigarette -
Ach, wenn ich bloß ´ne andre Sorte hätte;
Natürlich. Ausgerechnet so ein starkes Kraut,
Und überhaupt - ich will nach Haus
In mein Bett!
Und mich ausstrecken
Unter gewohnten, geliebten, vertrauten Decken
Und ich will meine Zahnbürste
Und meine Badewanne
Und meine eigene praktische Kaffeekanne,
Nicht dieses fremde, scheußliche Ding
Mit diesem ausgefallenen Muster.
Ausgerechnet ´ne Blume und ein Schmetterling.
Einfach verrückt!
Was hat denn der Junge da nur für Manieren?
Du lieber Himmel, so kann man sich irren?
Gestern abend war er doch wirklich scharmant.
Und heut ist er öd, scheußlich und unbekannt.
Ob denn das alles wirklich nötig ist - ?!
Ach, das kommt nur daher,
Dass man immer wieder in Romanen liest,
Dass es sowas wie Abenteuer gibt.
Und jetzt in die Lackschuh hinein.
Die tun doch weh, sind eng und brennen
Und überhaupt - ich mag nach Haus
In mein Bett und flennen!
Ich bin so verknautscht.
Ach ja, mein Liebling,
Am besten ist´s, du rufst mal an
Und kommst dann auf ganz gemütlich zu mir
Oliva 3304
Wo hab ich denn bloß die Telephonnummer her?
Ist das nicht die von Hedi Stehr?
Ach, was, der Junge macht sowieso keinen Gebrauch davon,
Wenn er anruft, lass ich mich hängen
Und überhaupt - wir wollen diese Nacht lieber verdrängen!
Lili Grün, aus: Berliner Tageblatt, 1931
Lili Grün wurde am 3. Februar 1904 als Elisabeth Grün in Wien geboren. Nach dem Tod ihrer Eltern ging sie Ende der 1920er Jahre nach Berlin, wo sie 1931 zusammen mit Freundinnen und Freunden aus der Künstlerszene ein literarisch-politisches Kabarett eröffnete. Zurück in Wien verarbeitete sie ihre Berlin-Erlebnisse in ihrem Roman "Alles ist Jazz", der erstmals 1933 unter dem Titel "Herz über Bord" im Paul Zsolnay Verlag erschienen ist. Mit der nationalsozialistischen Okkupation Österreichs im März 1938 hatte Lili Grün als jüdische Schriftstellerin schlagartig keine Möglichkeit mehr zu publizieren. Verarmt und lungenkrank blieb ihr die Emigration ins rettende Ausland verwehrt. 1942 wurde sie aus Wien deportiert und am 1. Juni 1942 mit anderen Opfern, darunter die Dichterin Alma Johanna Koenig, im weißrussischen Vernichtungslager Maly Trostinec ermordet.
Das Bild ist von Georg Schrimpf (1889 - 1938)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen