Sonntag, 30. April 2023

Lilli Recht: Mai

 



Mai

Man hat den alten Mantel putzen lassen,
Den Winterhut mit Stroh umsäumt,
Das Seidenkleid nochmal gewaschen
Nun schlendert man durch helle Gassen
(Die Hände in den leeren Taschen),
Sieht die Läden an - und träumt -

- Ja, der Frühling wird nun wieder kommen
Und es wird sogar der Flieder blühn,
Unser Herz (stark mitgenommen)
Wird vielleicht noch leicht erglühn.
Und man wird in einem Garten
Eine Zeitlang auf ein Wunder warten -

- Doch eh´ Wunder reifen wird es kühl,
Eh´ man glücklich sein kann wird man still
Und so geht man, wenn es Abend wird,
(Scheu vorbei an Plakaten,
Die der Fremde Schönheit bunt verraten)
Einen Weg, der nach der Vorstadt führt.

Lilli Recht, aus: Ziellose Wege, Druck von Heinrich Mercy Sohn, Prag 1936

Lilli Recht wurde am 17. Februar 1900 in Hodolany / Hodolein bei Olomouc / Olmütz geboren.1938 emigrierte sie gemeinsam mit ihrer Schwester nach Italien 1926 zog sie nach Prag, wo sie ihre Gedichte und Texte im Prager Tagblatt veröffentlichte. 1936 erschien ihr einziger Gedichtband Ziellose Wege. Lilli floh gemeinsam mit ihrer Schwester vor der nationalsozialistischen Besetzung nach Italien, 1941 wurde sie interniert. Nach ihrer Freilassung 1944 lebte sie in Neapel und später in Potenza. Weitere Lebensdaten sind nicht bekannt.

Das Bild ist von Hans Baluschek (1875 - 1935)

Hans Schiebelhuth: Hexenhochzeit

 



Hexenhochzeit

Ganz tief im Brummbär-Brombeer-Wald
Da hauste eine Hex;
Alt war sie tausend Jahre bald
Und kannte jed Gewächs

Und jeden Vogel, jeden Stein
Und selbst das kleinste Tier;
Herrin im Hag war sie allein,
Die Wesen dienten ihr.

In ihrer Felsenküche gor
Manch giftig-zäher Saft,
Gebräu, Arznei und Schmer und Schmor
Von großer Zauberkraft.

Zur Maizeit in der Neumondnacht
Nahm sie den tollsten Trank,
Dazu ein Bad, da wars vollbracht,
Und jung stand sie und schlank:

Schneehell das Antlitz, zart und rund,
Das Auge frisch und klar,
Und rot und voll und weich der Mund,
Und Goldgelock das Haar.

Sie zeigt dem Spiegel ihr Gesicht,
Der sprach: »Schön seid ihr, Frau,
Drei Tage währts, doch länger nicht,
Drum richtet euch genau.«

Früh trat sie aus dem Baum hervor,
Bog das Gebüsch beiseit;
Dachs aus dem Bau und Has, ganz Ohr,
Erschienen dienstbereit.

Sie winkte, ging durchs Dickicht grad
Und blieb zuweilen stehn,
Sich umzusehn, sie nahm den Pfad,
Den Menschen manchmal gehn.

Bald kam ein Köhlerknecht des Wegs.
Er sah und – wie sichs gibt –
War ohne ein Erstüberlegs
Vergafft, verguckt, verliebt.

Er sprach: »Du blickst so wunderlich,
Daß du mich all entflammst.«
Sie sprach: »Du riechst so zunderlich,
Weil du vom Meiler stammst.«

Er sprach: »Was tuts? Schau besser her!
Bin ich nicht fest und frisch?«
Sie lacht'. Es war die Wahl nicht schwer.
Sie lud ihn ein zu Tisch.

Im prasergrünen Talpalast
Saß er beim Mahl mit ihr.
Zwölf Wildschweinrücken aß der Gast
Und trank drei Hechter Bier.

Bucheckerngrütz und Erpelklein
Gabs dann und Dommelzung
Und Bizzelspritzelwitzelwein,
Den Jahrgang jach und jung.

Zum Schluss gabs würzgen Wurzelgeist;
Er kippt' ihn mit Genuss
Und war beschwippst und wurde dreist
Und gab ihr einen Kuss.

Und sprach: »Mir fliegt die Liebeshitz
Wie Gnitzen ins Gesicht,
Wie Wut ins Blut und nimmt Besitz
Und – merkst du es denn nicht? –

Das Herz pocht an die Rippen mein,
Als hämmerte ein Specht;
Ich wollt, du wollst mein Bräutchen sein;
Sag, Schatz, dir ist's doch recht?«

Sie schwieg. Er spürt', sie willigt ein,
Trug sie zum Lager, toll;
Das Lein war sommerfädenfein,
Die Deck aus Distelwoll.

Sie sanken hin, genossen sich;
Sie fanden sich gewandt,
Erschlossen sich, ergossen sich,
Verströmten ineinand',

Vergnügten, fügten, habten sich,
Und wurden lass und leis,
Ergetzten, letzten, labten sich
Aufs Neue, hell und heiß.

Dann lagen sie und schwiegen lang,
Zart, schmiegsam, ausgetost,
Befangen noch vom Überschwang
Und wohlig nachliebkost.

Doch bald wars Mitternacht vorbei,
Da bat sie ihn aus Lieb
Zu gehn, weil es nicht schicklich sei,
Daß er noch länger blieb.

Er ging, lag unterm Hollerstrauch,
Schlief tief und traumerglüht;
Dort fand sie ihn im Morgenrauch
Laut schnarchend, taubesprüht.

Sie saß im Busch, bestaunte baß,
Wie dieser Schlafratz schnob,
Im Atemschlurf und Atemlaß
Die Brust sich senkt' und hob.

Sie kitzelt' ihn, er nieste darauf;
Mit einem lauten »Tzisch«
Erwacht er lachend und sprang auf,
Und war unendlich frisch.

Es war wie dieser Maitag toll
Noch nie ein Tag im Mai;
Sie herzten, scherzten, übervoll
Von Lust und Neckerei.

Er fragt': »Wie heißt du eigentlich?«,
Als drauf die Rede kam;
Sie blieb ein Weilchen schweigentlich,
Dann nannt sie ihren Nam':

»Gib acht! Ich bin die Hagidis!«
Er brummte: »Höh! Wie dumm!
Das sticht ja wie ein Natterbiß.
Weißt du, ich tauf dich um

Und nenn dich Weißchen-Meisenspeck
Und Wes'chen Küß-nicht-faul
Und Schnickelschnackelschnuckelschneck
Und Hummelhonigmaul.«

Sie nannt' ihn Schwarzwatz-Kohlenfratz
Und Rußrab-Riesegroß.
Zu Wonnen fand sich manch ein Platz
Im Gras und weichen Moos.

Bei Kuß und Kosen aber blieb
Nicht dieser Tag im Wald.
Er sprach: »Hast du mich wirklich lieb,
Dann heiratst du mich bald.«

Drauf sprach sie: »Schön und gut und fein!
Wenn es dir so gefällt,
Soll heute noch die Hochzeit sein;
Der Saal ist schnell bestellt.«

Zur Feier kamen, schön zu schaun,
Zwei Bärlein: Betz und Urs,
Zwei Quellenfraun, zwei Wellenfraun,
Vier Gnome und ein Thurs.

Aus Algenseide war ihr Kleid,
Der Umhang Hermelin,
Der Halsschmuck Bernstein-Goldgeschmeid,
Im Haar ein Krönchen schien.

Sie sprach zur Schar: »Nach altem Recht
Nehm ich und gutem Brauch
Zum Mann den Hartmut Köhlerknecht
Und wißt: Ich lieb ihn auch.«

Sie sprach zu ihm: »Mein holder Schatz,
Nun nehm in Nutz und Schutz
Ich Mondenkind dich Sonnenfratz,
Und dies hier sei dein Putz.«

Sie schenkt' ihm Schuh aus Binsenwand,
Ein Muschelkettchen gar
Und setzt' ihm auf mit linker Hand
Die Haub aus Hasenhaar.

Die Gäste johlten: »So ists echt!
Hei! So was sieht man gern!
Heil Hagidis! Heil Köhlerknecht!
Zur Heirat Glück und Stern!«

Man feierte, man aß, man trank,
Spielt' Haschmichrasch und Blindekuh,
Und wackeltanzte schwank und wank
Und gahlerte dazu.

Der Tag erschien, es losch der Kien,
Da war der Trubel um,
Sie taumelten zum Lager hin
Und stürzten selig-stumm

Eins in des Andern Arme, heiß
Verzehrt von der Begehr,
Vermählten sich und wurden leis,
Entschlummerten dann schwer,

Die glühen Glieder zartverschränkt,
Und nackend Brust an Brust,
Wachten zuweilen auf, beschenkt
Vom Ungestüm der Lust.

Schon trat die Drittnacht in den Hag;
Sie schliefen wunderbar,
Ihr Haupt an seiner Schulter lag,
Sein Atem blies ihr Haar.

Es kam die Mitternacht. Da spürt'
Ers kalt; auch wars, als hätt
Er Rindig-Rauhes angerührt...
Jäh fuhr er auf vom Bett...

Und sah schlaftrunken, wie da rasch
Ein runzlig Weib sich wandt,
Ins Leere langte, und im Hasch,
Ein Rauch, ein Hauch, entschwand.

Er sank zurück, begriff nur halb
Vom Schlaf zu sehr gesträngt,
Ihm deuchte wohl, ihm hätt ein Alb
Quälend die Brust geengt.

Ins Schlafgarn fiel er, wo nun traut
Ihn traf ein Traumgesicht,
Verschlief die Nacht, den Morgenlaut,
Und erst im Mittagslicht

Riss er die Augen auf: Da lag
Im Hollerstrauch er, ja,
Doch war der Wald wie alle Tag,
Vom Schloß kein Stein stand da.

Klang nicht ein Hüsteln, heiser-tief?
Er rannt' ihm nach, verwitzt:
Ein Kuckuck rief, ein Hase lief,
Ein Bär brummte verschmitzt.

Da gellte er: »Ich will dich!« schrill,
Da schrie er: »Hex herbei!«
Der Hag ward plötzlich sterbestill,
Sein Herz ein Klumpen Blei.

Ein Schauer scharf, ein Hexenschuss,
Fuhr ihm durch Mark und Bein;
Bang ward er und trug den Verdruss
Mit seiner Seel allein. –

Der Köhler fand zum Meiler heim,
Der raucht' noch, als er kam;
Es schien der Wald ihm ungereim,
Den Menschen ward er gram.

Er sagte nie ein Sterbensworte
Von dem, was er erfuhr;
Oft triebs ihn ruhlos suchend fort,
Nie fand er eine Spur.

So lebte er noch hundert Jahr ...
Sein Meiler, der verdarb,
Als, krumm vor Gicht, er, blind vom Star,
Die Hex verfluchend, starb.

Doch tief im Brummbär-Brombeer-Wald,
Sehr sicher des Verstecks,
Alt schon zweitausend Jahre bald,
Da haust sie noch, die Hex.

Unsichtbar! Und da spent und spukt
Ihr Wesen, und da zischts,
Da wuschelts, tuschelts, huschgeduckt,
Da schimmerts, schummerts, wischts;

Da sitzts und raschelts, wisperts, flitzts
Im Busch, am Wurzelknorren,
Am Bach, da glitzts, im Laub, da blitzts,
Den Zauber raunt es verworren.


Aus: Schalmei vom Schelmenried von Hans Schiebelhuth, Darmstädter Verlag, 1933

Hans Schiebelhuth, geboren am 11. Oktober 1895 in Darmstadt; gestorben am  14. Januar 1944 in East Hampton, New York, USA, expressionistischer Schriftsteller und Dichter.

Die Illustration ist von Edward Frederick Brewtnall (1846 - 1902)

Freitag, 28. April 2023

Maria Janitschek: Kinderspiel

 



Kinderspiel

»Ich hab eine Zither, du ein blaues Band,
komm laß uns werden ein Paar!« ...
Er faßt nach ihrer braunen Hand
und bietet die Lippen ihr dar.

Sie küssen sich hungrig, sie küssen sich satt,
die Vöglein lauschen sacht;
es rührt sich in den Büschen kein Blatt;
nacktfüßig kommt die Nacht.

Die jüngsten Sterne gucken
neugierig auf die zwei,
ihre goldnen Wimpern zucken ..
zögernd ziehen sie vorbei.

Maria Janitschek (1859 - 1927), aus: Sommerwind (1895)

Das Bild ist von Edward von Steinle (1810 - 1886)

Kurt Münzer: Liebe

 



Liebe

Tau auf Blumen -
Waren Deine Küsse auf meinen Wangen.
Sie fielen nachts
Und sind beim ersten Tagesstrahl vergangen.

Im Kelch die Biene -
In Deine Lippen lag mein Mund versunken.
Er hob sich fort,
Vom Nehmen Du, vom Geben war ich trunken.

Es fiel ein Stern -
Die Ewigkeit hat ihn verschlungen. . .
Du löstest Dich:
Dein Schritt ist in die Ewigkeit verklungen.

Kurt Münzer

Aus: Der Merker, Österreichische Zeitschrift für Musik und Theater, Jahrgang 3, Oktober-Dezember 1912

Kurt Münzer, geboren am 18. April 1879 in Gleiwitz; gestorben 27. April 1944 in Zürich, Schriftsteller. Schon für sein erstes Buch, die Abhandlung Die Kunst des Künstlers (1905), hatte Münzer einen Verleger gefunden. In den folgenden 18 Jahren erschienen über 20 Romane, Novellen, Theaterstücke und Kurzgeschichten, die teils beträchtliche Auflagen erzielten. Unmittelbar nach Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 emigrierte Münzer in die Schweiz, wo er vorwiegend in Bern lebte, zeitweise Mitarbeiter des Steinberg-Verlages Zürich war, aber als Schriftsteller keinen größeren Erfolg mehr erzielen konnte.

Das Bild ist von Félix Vallotton (1865 - 1925)

Donnerstag, 27. April 2023

Lisa Baumfeld: Sünde

 



Sünde

(Gemälde von Franz Stuck)

Allein die Sünde ist unendlich reich . . .  (Loris.)

... Ein weißes Weib lehnt in den dunklen Falten
Mit steinig weißen, grau'nhaft schönen Gliedern,
An die sich gleißend eine Schlange schmiegt ....
Mit bleichem, sündhaft schönem Antlitz ...

Aus seinen Zügen leuchtet, blaßroth schwellend,
Ein wundersüßer Mund, der vieles sagt,
Und lächelnd ... viel verschweigt ...
In ihrem Aug', dem trunk'nen, zaubertiefen,
Brennt sehnsuchtsfeucht ein Blick, der lockt und fängt
Und schmeichelnd kost und tödlich wundet
Und glühendheiß macht und den Sinn verwirrt ...

Wer bist du, seltsam Weib?
Was glüht in deinen Lippen?
Was rauscht sirenengleich
Aus deiner Augen Meer?

»Mein Name ist der älteste hienieden.
Ich bin im Hauch der starren Tuberose,
Der schweren, die in weißen Gluten brennt ...
Ich bin, wo tolle Rhytmen wirbeln
Und Menschen lachend sich dem Klang hingeben
Und sinnberauschet in den Tod sich wirbeln ...
In allem Dufte, der dich trunken macht
Und süß zu Tode küßt und duftet ...
Bin im Accord, der brausend dich durchflutet,
Und deine Seele streichelt und zerreißt,
Dich elend macht und doch unsagbar glücklich!

Mein Reich ist, wenn der silberweiße Mond
Sein schimmernd Gift in Erdenwunden hinweint,
Und Lieb' und Wahnsinn durch die Lüfte rasen ...
In blassen schönen Frau'n kannst du mich fühlen.
Ich weh' als Athem in des Mundes Gluten,
Ich zuck' in ihrer Hand, die dich erbeben macht ...
Ich bin im Duft der weichen Frauenhaare
Und hab' an ihrer Brust, der kalten, dich durchfröstelt
Und fiebre in dem Kuß, der dir das Herz versengt ...

Komm', komm' zu mir! Ich weiß ein schönes Märchen
Und weiß, dein Herz ist krank ... ich küsse dich gesund!
In meinem Arm ist seliges Verbluten ...
Komm', komm' zu mir! Ich weiß ein schönes Märchen …

Lisa Baumfeld, geboren am 27. April 1877 in Wien; gestorben am 3. Februar 1897 ebenda)

Baumfeld erkrankte schwer und verstarb innerhalb weniger Tage im Alter von 19 Jahren in Wien. Postum gab Ferdinand Groß 1899 eine Sammlung ihrer Gedichte unter dem Titel Gedichte heraus.

Das Bild „Die Sünde“ von Franz Stuck (1863 - 1928) ist die Version von 1906, es gab insgesamt 11 Versionen davon.

Mittwoch, 26. April 2023

Carl Einstein: Heimkehr

 



Heimkehr

Krieche der Erde.
Krümm dich der Wolke.
Willst du das, Mann?
In Scherben zerrieben, zum Irrsinn gezerrt.
Endloser Wanderer, allein.
Tod läuft dich an,
Streut in rauchige Asche
Aufriß und Ruhm.
Junges leuchtet geehrt.
Jetzt nur Flecken, ein Wisch.
Dies alles. Schwankst
Und streifst kaum
Gras, das die Hüfte umgrünt.
Keuche zum Himmel.
Knochen, Feigen und Sklaven
Hungert es uns.
Seele verloren, läßt es den Leichnam dir taumeln.
Deinen Schatten schreckt staubiger Abend.
Anderer Muscheln,
verschmäht und zergart,
frißt er.
Schämen zerbricht dich.
Ihnen ermattet
wirst du des Knaben Erde verspüren.
Niemand grüßt.
Niemand ein Wort.
Nie ruft den Namen
Die Stimme des Menschen.
Würge dir ein Hungers Wege.
Aufwärts! da oben klingende Türe.
VERHUNGERT.
Himmel grüßt zart,
Bietet dir Kommen und Schluß.

Carl Einstein, aus: Die Aktion 9/10 (1917)

Carl Einstein, eigentlich Karl Einstein, geboren am 26. April 1885 in Neuwied; gestorben am 5. Juli 1940 in Boeil-Bezing in Frankreich nahe der spanischen Grenze, Kunsthistoriker und Schriftsteller.

Einstein war mit dem Dichter und Kritiker Ludwig Rubiner seit der Universitätszeit befreundet, um 1910 machte ihn Franz Blei mit Kurt Hiller und Franz Pfemfert bekannt. Einstein veröffentlichte seine erste Kunstkritik in dem von Pfemfert betreuten Demokraten (1910), theoretische und literarische Texte erschienen seit 1912 regelmäßig in der berühmten politisch-expressionistischen Zeitschrift Pfemferts, der Aktion. Der Roman Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders (1912) löste eine kleine philosophisch-literarische Sensation aus (akausale „absolute Prosa“). Parallel zur literarischen Arbeit verfasste er zahlreiche kunstwissenschaftliche Studien.

Nach einigen Reisen durch Italien zog Einstein 1928 nach Paris. 1932 heiratete Einstein die Französin Lyda Guévrékian. Nach dem Ausbruch des Spanischen Bürgerkrieges ging er im Sommer 1936 nach Barcelona, seine Frau folgte ihm. Nach dem Sieg Francos im Spanischen Bürgerkrieg floh Einstein 1939 nach Paris. Einstein und seine zweite Frau kamen für eine Weile bei den Leiris unter. Als deutscher Staatsangehöriger im Frühjahr 1940 bei Bordeaux interniert und im Juni entlassen, nahm er sich nach der Niederlage Frankreichs das Leben. (Wiki)

Das Bild ist von Ferdinand Hodler (1853 - 1918)

Dienstag, 25. April 2023

Bruno Quandt: Der Wind schlägt unsre Schläfen. . .

 



Der Wind schlägt unsre Schläfen,
Belebter pocht der Puls.
O gäb ein Gott, wir träfen
Nicht Meier mehr noch Schulz.

Wir heben unsre Hände
in betender Begier
Wie Hoffende, uns fände
Nichts Preußisches mehr hier.

Wir fliehn zu freiern Fernen,
Deutschland, fahr ewig wohl.
Wir fliehen, fliehn Kasernen,
Skattische, Bier und Kohl.

Das Fleisch von fetten Frauen,
Wir retten uns ins Frei.
Und wo wir landen, bauen
Wir unsre Sakristei.

Die Anker hebt, die Anker!
Europa, seht, verbleicht.
Im Osten blüht ein blanker
Stern, und die Erde weicht.

Bruno Quandt, der am 25. April 1887 in Düsseldorf zur Welt kommt, besucht zunächst das Gymnasium in München-Gladbach. Nach der Reifeprüfung 1908 führt er ein unstetes Studentenleben, das ihn zunächst für drei Semester nach Marburg und Freiburg verschlägt, wo er Jura studiert. Das offenbar unbehagliche Studienfach wechselt er bald, studiert bis Ende 1914 – ohne einen Abschluss zu erlangen – nunmehr Neuere Sprachen in Freiburg, München, Straßburg, Halle, Leipzig und Münster. 1913 veröffentlicht er eine erste Novelle in dem patriotischen „Deutschen Studentenbuch 1913“ sowie Gedichte in der Anthologie rheinischer Lyriker „Fanale“. Ebenfalls 1913 erscheinen zwei Lyrikbände von ihm, die heute so gut wie unauffindbar sind: „Erze im Feuer“ und „Ohne Narkose. Ein Martyrium in Gedichten“. Die wenigen Rezensenten, die sich der Bände annehmen, sind in ihrer Meinung über die Qualität des Dichters uneins. Man hält ihn sowohl für einen „Dichter allerersten Ranges, der sich Georg Heym und Klabund ebenbürtig anschließt“, als auch für einen, dessen Gedichte technisch zumeist „unausgereift“, ja sogar „ungekonnt“ sind. 1914 erscheinen noch einige wenige Beiträge von ihm in der Zeitschrift „Die Gesellschaft“, dann verliert sich seine Spur.

Bruno Quandt stirbt am 18. Februar 1918, gerade einmal 30-jährig, in einem Krankenhaus in München-Gladbach. Ob auch er ein Opfer des Weltenbrandes wurde, ist nicht gewiß, aber doch wahrscheinlich.

Klappentext Heft 26 Versensporn

Das 26. Heft des VERSENSPORN, welches im Dezember 2016 erschien, bietet mit insgesamt 48 Gedichten einen Querschnitt durch das schmale lyrische Schaffen dieses vergessenen Dichters, das getragen ist von unbedingter Unbürgerlichkeit, brutalem Erleben und schmerzlicher Ekstase.

Das Bild ist ein Holzschnitt nach einer Zeichnung von Johannes Gehrts (1855 - 1921)


Sonntag, 23. April 2023

Yvan Goll: Ich bin gealtert vor Sehnsucht

 



Ich bin gealtert vor Sehnsucht

Ich bin gealtert vor Sehnsucht nach
Feuchten Februaren und verspäteten Aprillen
Um dir ein Maiglöckchen zu schenken
Wie viele bleiche Nächte hab ich gewacht
Um den Mond zu befragen
Ob deiner Treue
Ich habe elektrische Sommer ertragen
Dein Telegramm erwartend
Und an den Abenden der Traurigkeit
Streichelte ich die Hände sterbender Lilien

Jede Jahreszeit ist gut für die Arbeit des Herzens:
Bauer des Himmels
Säe und ernte ich Sterne
Um uns zu ernähren meine Geliebte.

Yvan Goll (auch Iwan oder Ivan Goll, eigentlich Isaac Lang; geboren am 29. März 1891 in Saint-Dié, Frankreich; gestorben am 27. Februar 1950 bei Paris), deutsch-französischer Dichter, er war verheiratet mit der Schriftstellerin Claire Goll (1890 – 1977)

Das Bild ist von Odilon Redon (1840 - 1916)

Samstag, 22. April 2023

Albrecht Haushofer: Wandlung / Dem Ende zu / Zeit

 



Wandlung

Von dem, was uns in jungen Jahren band,
An Wunsch und Wert in menschlichem Gestalten,
Wie wenig hielt den tötlichen Gewalten
Im letzten Prüfen unsrer Seele stand:

Wie vieles, was wir früher kaum gesehn,
Ist heute nah mit ungeheurem Wirken:
Wir nähern uns den heiligen Bezirken,
Vor denen scheu wir nun in Ehrfurcht stehn.

Wie Gold und edle Steine sich im Sand
Verborgen halten, bis der Sand verweht,
Und ihr Gewicht allein im Sturm besteht,

So hebt sich nun aus allem lauten Tand
Das Unvergängliche. Das Ich wird still,
Wenn Es in ihm schon leise beten will.


Dem Ende zu

Die Stimmen, die von aussen uns erreichen,
Sind schrill und heiser. Geiferndes Erschrecken
Verrät der Hinkende. Die andern recken
Mit hohlem Schrei die toten Siegeszeichen.

Das Ende wittern selbst erprobte Toren.
Doch kann der Krieg nicht enden dieses Mal,
Bis kein Gefreiter mehr, kein General
Behaupten darf, er wäre nicht verloren...

Was half es, dass der wägende Verstand
Die Rechnung führte bis zum letzten Schluss.
Der Wahn begreift nur, was er fühlen muss!

Der Wahn allein war Herr in diesem Land.
In Leichenfeldern schliesst sein stolzer Lauf
Und Elend, unermessbar, steigt herauf.


Zeit

Ich träume viel bei Nacht und viel bei Tag.
Die Zeit ist ohne Wert. Ich kann vergessen,
Der Stunde wie der Woche Gang zu messen,
Wenn ich mich nicht auf sie besinnen mag.

Doch wittern auch die Träume wohl die Zeit —
Erwach ich dann vom Dienstgeklirr der Schlüssel,
Vom Mittagsruf nach meiner Suppenschüssel,
Und raffe mich, zum Täglichen bereit:

Dann weiss ich, aus dem Träumen aufgestört,
Wie einer fühlt in seinen letzten Stunden,
Der, an ein ruderloses Boot gebunden,

Den Fall des Niagara tosen hört.
Die Wasser schlagen an des Bootes Rand.
Sie strömen rasch. Gebunden — ist die Hand.

Albrecht Haushofer, geboren am 7. Januar 1903 in München; wurde am 23. April 1945 in Berlin von der SS ermordet. Er war Geograph, Diplomat und Schriftsteller, und trotz inneren Missbehagens stieg er im Auswärtigen Amt auf, wurde aber später geschasst.

Sein Bruder Heinz Haushofer fand in der Manteltasche des Toten mehrere beschriebene Blatt Papier mit 80 Sonetten, Diese wurden 1946 unter dem Titel „Moabiter Sonette“ veröffentlicht.

Albrecht Haushofer war einer, der sein Gewissen erst spät entdeckte. Aber er ist dem Ruf dieser Stimme schließlich gefolgt. Bis in den Tod:

„Ich klage mich in meinem Herzen an: / Ich habe mein Gewissen lang betrogen, / ich hab mich selbst und andere belogen – / ich kannte früh des Jammers ganze Bahn – / ich hab gewarnt – nicht hart genug und klar! / Und heute weiß ich, was ich schuldig war …“

Das Foto zeigt den Einband der Ausgabe der Moabiter Sonette von 1946.


Friedrich Rückert: Ich bin der Welt abhanden gekommen

 



Ich bin der Welt abhanden gekommen

Ich bin der Welt abhanden gekommen,
Mit der ich sonst viele Zeit verdorben,
Sie hat so lange nichts von mir vernommen,
Sie mag wohl glauben, ich sei gestorben!

Es ist mir auch gar nichts daran gelegen,
Ob sie mich für gestorben hält,
Ich kann auch gar nichts sagen dagegen,
Denn wirklich bin ich gestorben der Welt.

Ich bin gestorben dem Weltgetümmel,
Und ruh' in einem stillen Gebiet!
Ich leb' allein in meinem Himmel,
In meinem Lieben, in meinem Lied!

Friedrich Rückert (1788–1866), aus: Liebesfrühling.

Das Bild ist von Odilon Redon (1840 - 1916)

Freitag, 21. April 2023

Theodor Storm: Meeresstrand

 



Meeresstrand


Ans Haff nun fliegt die Möwe,
Und Dämmerung bricht herein;
über die feuchten Watten
Spiegelt der Abendschein.

Graues Geflügel huschet
Neben dem Wasser her;
Wie Träume liegen die Inseln
Im Nebel auf dem Meer.

Ich höre des gärenden Schlammes
Geheimnisvollen Ton,
Einsames Vogelrufen -
So war es immer schon.

Noch einmal schauert leise
Und schweiget dann der Wind;
Vernehmlich werden die Stimmen,
Die über der Tiefe sind.

Theodor Storm (1817 - 1888)

Das Bild "Sonnenuntergang am Meer" ist von Ludwig de Laveaux. (1868 - 1894)

Donnerstag, 20. April 2023

Hugo Ball: Früh, eh der Tag


Früh, eh der Tag

Früh, eh der Tag seine Schwingen noch regt,
Alles noch schlummert und träumet und ruht,
Blümchen noch nickt in der Winde Hut,
Eh noch im Forste ein Vogel anschlägt,

Schreitet ein Engel
Durchs tauweiße Land
Streut ans den Segen
Mit schimmernder Hand.

Und es erwachet die Au und der Wald.
Blumen bunt reiben die Äuglein sich klar,
Staunen und flüstern in seliger Schar.
Aufstrahlt die Sonne, ein Amselruf schallt.

Aber der Engel
Zog längst schon landaus.
Flog wieder heim
In sein Vaterhaus.


Hugo Ball (1886  -  1927), aus: Gedichte, Sammlung aus dem Projekt Gutenberg DE, 2017

Das Bild ist von Odilon Redon (1840 - 1916)

Dienstag, 18. April 2023

Alfred Günewald, aus: Renatos Gesang - Einkehr (13 / 14)


 

Aus: Renatos Gesang – Ein Buch der Einsamkeit

Einkehr

13


Ich leg mein Ohr an einen Baum und höre
des Baumes Herzschlag. Meine Blicke dringen
durch Nebel, ihre Trübe zu bezwingen,
und seltsame Gesichte ich beschwöre.

Der Vogel Glü, den ich im Schlafe störe,
tut einen Silberruf und regt die Schwingen.
Dort nickt das Abendmännlein. Grillensingen
wird zum Choral, daß es mich auch betöre.

Es blüht der Himmel — eine Rose zart.
Und immer neues Wunder will sich zeigen.
Doch was sich meinem Staunen offenbart,

ist tieferes Geheimnis. Von den Zweigen
tropft goldner Tau. Der ist von Stemenart.
Der Quelle Flüstern ist wie ein Verschweigen.

14

Ich ging mich suchen, doch ich fand mich nicht
in meinem Herzen, nicht im Schwärm der Menge.
Wo bin ich? rief ich oft in Angst und Enge.
In allen Spiegeln sucht ich mein Gesicht.

Und eines Fremden Auge sah ich dicht
vor meinem Blick und fühlte seine Strenge,
als ob ein fremdes Wissen mich bezwänge.
Es stiegen Schatten auf im fahlen Licht.

Nun aber weiß ich, töricht war mein Bangen.
Ich hab in alle Lüfte mich gestreut
und kann mich tausendfach zurückverlangen.

Im Sturm verloren, bin ich sturmbetreut.
Der Fesseln bar, bin ich zutiefst verbunden.
Ich suchte nimmer und ich hab gefunden.

Alfred Grünewald, Verlag Paul Stern, Wien 1921

Alfred Grünewald wurde am 17. März 1884 in Wien geboren. Nach den Novemberpogromen 1938 wurde er am 14. November 1938 in das KZ Dachau verbracht, im Januar 1939 wurde er wieder entlassen. Er floh über die Schweiz nach Südfrankreich, nach Kriegsausbruch wurde er in der Fort-Carré in Antibes und im Lager Les Milles interniert, bis Herbst 1942 lebte er in Nizza. Dort wurde er von der Polizei des Vichy-Regimes festgenommen und an die SS ausgeliefert. In Auschwitz wurde er am 9. September 1942 ermordet.

„Sie sagten ferner, daß auf einer der beiden, hier vorhandenen Einsiedeleien sich ein vornehmer französischer Cavalier, namens Renato, als Einsiedler . . . befände“ (Cervantes, aus: Irrfahrten des Persiles und der Sigismunda, eine nordische Geschichte, Cervantes sämtliche Werke, Leipzig 1825)

Das Bild ist aus einem Alchemiebuch aus dem 17, Jahrhundert, Autor unbekannt.

Sonntag, 16. April 2023

Erna Gerlach: Morgen

 



Morgen

Tag fällt in die Kissen
Tag - - - -
Lächelnerfüllt,
rosenblätterweichkosend, fragend fangend,
hebend, - - senkend - - hebend
zerflatternde Träume, rosenblätterweichkosend.
Blütendurchduftendes Schimmern erleuchtet,
Stunden, Tage, - - - - - Leben - - -
lichtgeschwängert das du in mir
das Wollen du
der Tag du
Ackergrund du
brechende Kette du
und ich in du
und heller Tag, rosenblätterweichkosender Tag
kreuzen heller Gedanken - - du
- - - du in fröhlicher Spur
fragend, fangend, hebend,
du der Tag - -
der Tag - - du
- - - hebend - - - - - -

Erna Gerlach (Lebensdaten unbekannt), aus: Die Rote Erde, Monatsschrift für Kunst und Kultur, 1. Jahrgang, Heft 6, Hamburg 1919

Es sind auch Gedichte von ihr zu finden in: Hartmut Vollmer, "In roten Schuhen tanzt die Sonne sich zu Tod", Lyrik expressionistischer Dichterinnen, Herausgegeben von Hartmut Vollmer, Arche Verlag Zürich 1993

Das Bild „Am Morgen“ ist von Georg Schrimpf (1889 - 1938)

Samstag, 15. April 2023

Lessie Sachs: Lyrisches Gedicht

 



Lyrisches Gedicht

"Sie mit Ihren wunderbaren Händen, ..."
Sagt der Mann, der heut bei mir zu Gast.
Was er will, das hab ich scheu erfasst;
Heimlich denke ich: wie wird das enden?
Weil mir leider dieser Herr nicht passt.

Und er sagt, er liebt nur kluge Frauen,
Hierauf bleibe ich vielsagend stumm;
Besser ist es oft, man stellt sich dumm.
Er fährt fort, mich glühend anzuschauen,
Dies Erlebnis wirfst ihn um und um.

Und dann sagt er, ganz wie im Romane:
Meine Hände seien so graziös,
Und pervers und geistvoll und nervös, -
Er ist offenbar im Liebeswahne.
Er meint's ernst! - (Der Kaufmann sagt: seriös.)

Ich markiere Tragik und Erstaunen,
Wer Geduld hat, hört sich sowas an.
Niemals widerspreche man dem Mann,
Denn der Man spricht dann von unsern Launen.
Man sei ganz nach Wunsch, soweit man kann.

Selten kommt der Rechte, meine Damen,
Wer uns liebt, den liebt man meistens nicht. -
(Ich verwende, was mir nicht entspricht,
Gern gelegentlich zu einem zahmen,
So wie oben, lyrischem Gedicht. -)

Aus: Tag- und Nachtgedichte von Lessie Sachs
Ausgewählt und eingeleitet von Heinrich Mann
New York City 1944
Printed in U.S.A. Zeidler Press (Josef Wagner)

Lessie Sachs, geboren am 5. September 1897 in Breslau, gestorben Anfang 1942 in New York City/ USA, Dichterin und Malerin.

Das Bild ist von Hugo Scheiber (1873 - 1950)

Freitag, 14. April 2023

Reinold Eichacker: Nach dem Feste

 



Nach dem Feste

Noch lass die Hüllen nicht zu Boden sinken,
noch nicht!
Noch lass Dein Bild mich wie im Saale trinken,
im Licht!
Noch will ich Dich gleich einem Traume grüßen,
heimlich vertraut,
und lauschen Deiner Stimme, Deiner süßen,
wie fremdem Laut.
Und wie im Saale sollst Du fern mir stehen
in kalter Pracht,
und nur Dein Blick soll, wie der meine, flehen
nach dieser Nacht! . . . .
. . . . Weib! — Venus! — . . Weib!
Sind wir es beide,
die dort der hohe Spiegel wiederstrahlt?!
— Um Deine schlanken Hüften schmiegt die Seide
sich wie ein Wort, das in der Nacht verrinnt;
aus Spitzen, zart und duftig, wie die Träume
im Mondschein sind,
taucht Deiner vollen Schulter sattes Weiß,
um Deines Nackens blondes Flaumhaar schweben
der Dämmerung Liebesseufzer, weh und heiß,
und Deiner Brüste Rosenknospen beben . . .
Noch lass die Hüllen nicht zu Boden sinken,
Du Königin,
doch mit dem Fächer sollst Du heimlich winken,
zum Spiegel hin,
und ich will wieder an der Säule lehnen
und Bettler sein,
bis Deiner Augen demutvolles Sehnen
mich ruft: sei mein!
Und dann will ich mit einem Male wissen,
daß mir allein all Deine Schönheit gilt,
daß ich Dich plötzlich an die Brust gerissen,
als Sklave — nein! als Herrscher, stark und wild,
und daß ich meine heißen Augen kühlte
in Deinem Haar,
und dich, nur Dich in meinem Blute fühlte,
und König war!

Noch lass die Seide deinen Leib umkosen,
Du stolzes Weib,
noch löse nicht an Deiner Brust die Rosen,
und bleib!
Noch laß im Spiegel mich zur Seite stehen
von Lust entfacht,
und aus dem Parke soll der Atem wehen
der Sommernacht!

Und unserer Wünsche Ströme werden rauschen
mit vollem Klang,
und unsere Herzen werden schauernd lauschen
der Sinne Sang,
und alle Hüllen werden niederbrennen
an unserer Glut,
und unser Leib wird keine Trennung kennen
wie unser Blut . . . .!
. . . . Dann erst will, Weib, ich Deine Hüllen rauben,
berauscht und frei,
und Deinen Küssen, Deinen Seufzern glauben,
daß diese Lust,
daß diese Nacht
kein Märchen sei!

Aus: Nächte der Venus - Ein erotischer Zyklus von Reinhold Eichacker
Mit Bildbeigaben von E. Deetjen 26.-50. Tausend o. J. [ca. 1925]
Universal-Verlag München

Reinhold Eichacker, geboren am 21. Mai 1886 in Siegburg; gestorben am 10. Juli 1931 in Gröbenzell bei München); Jurist und Schriftsteller.

Reinhold Eichackers literarisches Werk besteht aus Romanen, Erzählungen, Kinderbüchern, Essays, Gedichten, Theaterstücken und Libretti für Opern und Operetten. Sein erzählerisches Werk umfasst neben Abenteuer-, Kriminal- und Science-Fiction-Romanen auch Werke mit erotischer Thematik.

Zur Zeit des Nationalsozialismus waren einem Eintrag in der Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums von 1938 zufolge sämtliche seiner Schriften in Deutschland verboten.

Das Bild ist von Delphin Enjolras (1857 - 1945)

Sophie van Leer, Wilhelm Runge: Lieder

 



In meinem Blut
tanzt
Du

Säule
trägst Du mich
Wellen schlägst Du um mich her
Mantel aus Meer

Nacht singt Du
Traum träumt Du
Sinn sinnt Du
Fern
Du

Sophie van Leer, aus: Lieder, Der Sturm, Nummer 2, 15. Mai 1916


Nicht mehr wandern darf ich durch dein Antlitz
plötzlich falle ich in deiner Augen
tiefe Schlucht
alle Berge schlagen über mir zusammen
mit den Wellen deines Haars
wirf des Lachens Rettungsring
ganz dünn
ist meine Stimme
und wird zerreißen
meinen Wurzeln schließt die Hand dein Felsen
und des Auges Rose liegt gebrochen
du bist blauer Himmel
ich die Wolke
die sich fest an deinen Nacken klammert
sich nicht halten kann
und tausendfingrig
regenschreckt erdhin
den Wiesengrund
und dort hinsinkt himmellosgelöst auf ihr weiches Knie

Wilhelm Runge, aus: Lieder, Der Sturm, Nummer 21 - 22, 1 Februar 1916


In meine Schultern hülle ich Dich
und trage Dich zu mir

Ich wiege Dich im Kahne meines Bluts
und pflanze hoch die Wälder meiner Glieder
um Dich
ich bette Dich
in das rausche Gestrüpp meiner Locken

Sophie van Leer, aus: Lieder, Der Sturm, Nummer 2, 15. Mai 1916


Garnicht aufstehn mögen meine Augen
denn der Weg, den sie einst gingen
steht jetzt voller Widersprüche
Haben sie sich kaum erhoben
schlägt sie schon ein neu Geschehen
wie mit Ruten nieder.
Darum weichen sie hin nach der Heimat
allen fremden Worten aus
werden tief wie je ein Brunnen
und Erinnerung zerreißt den Spiegel
Tage tauchen auf
ganz maidurchdrungen
Primeln läuten durch das Wiesengrün
und das Flattern bunter Pfauenaugen
Blumen finden nicht mehr ihren Duft
ganz versunken in dem Rausch der Farben
Zweige zwitschern
grünhin summt das Gras
eine Spinne spinnt feinwunderwas
und die Bäume
schäkern mit den Tauben.

Wilhelm Runge, aus: Lieder, Der Sturm, Nummer 21 - 22, 1 Februar 1916


Wunde mich nicht
wende Dich nicht
weile
wölbe Dein Lauschen

Bieg Deine Glieder
beuge Dein Lächeln

Neige die Wange
in meinen Schoß

lausch meiner Sehnsucht
Rausche Rausche

Sophie van Leer, aus: Lieder, Der Sturm, Nummer 2, 15. Mai 1916

Sophie van Leer, geboren am 3. Februar 1892 in Amsterdam; gestorben am 3. Juni 1953 ebenda, Lyrikerin, 1915 ging sie dann nach Berlin, wo sie sich der Gruppe um Herwarth Walden anschloss. In deren Zeitschrift Der Sturm erschienen in den folgenden Jahren zahlreiche Lyrik- und Prosabeiträge van Leers. 1915 lernte sie bei einer Ausstellung den Maler Georg Muche kennen, in den sie sich stürmisch verliebte und mit dem sie sich verlobte. Die Beziehung zerbrach 1918. Gleichzeitig bestand allerdings eine Beziehung zu dem jungen Dichter Wilhelm Runge, der als Soldat an der Westfront kämpfte, und mit dem sie einen ausgedehnten Briefwechsel führte, der 2011 publiziert wurde. Während der Novemberrevolution wurde Sophie van Leer in München verhaftet und zum Tode verurteilt, kam aber einen Tag später bereits frei. Einem während der Inhaftierung abgelegten Gelübde folgend konvertierte sie zum Katholizismus und nahm dabei die Vornamen Francisca Maria an. (Wiki)

Wilhelm Runge, geboren am 13.6.1894 Rützen/Schlesien, am 22.3.1918 bei Arras „gefallen“. In Schlesien aufgewachsen, ging Wilhelm Runge 1914 als Kriegsfreiwilliger an die Front. Vor Ypern wurde er im Nov. 1914 verwundet, 1915 kam er nach Berlin u. studierte Medizin. Dort schloss er sich dem »Sturm«- Kreis um Herwarth Walden an. Besonders eng befreundete er sich mit Georg Muche, damals Lehrer an der Kunstschule des »Sturm«, und dessen Braut Sophie van Leer. Im »Sturm« erschien fast seine gesamte Lyrik. Anlässlich seines frühen Todes schrieben Franz Richard Behrens, Kurt Heynicke u. Walter Mehring poetische Nachrufe; Muche widmete ihm ein Ölgemälde zum Gedächtnis. Das einzige Buch, der Gedichtband Das Denken träumt (Berlin 1918), wurde von Wilhelm Runge noch im Feld korrigiert, aber erst nach seinem Tod veröffentlicht.


Das Bild ist von Odilon Redon (1840 - 1916)

Donnerstag, 13. April 2023

Paul Wertheimer: Landschaft der Liebe

 



Landschaft der Liebe

Morgenwind. Blaßgoldne Weiten.
Tief im Moose ruht das Kind.
Von dem Baum der Zärtlichkeiten
Wehen weiß im Frühlingswind

Rosig zarte, leise Blüten,
Und sie hangen dir im Haar,
Und ich streife die erglühten
Lippen halb - und sonderbar

Fühl' ich heißer mich umschlossen.
Deine sanfte Lippe loht.
Auf den Mund sprang blutumflossen
Eine Blüte purpurrot . . .

aus: Im Lande der Torheit. Neue Verse
von Paul Wertheimer (1874 – 1937), Wien und Leipzig 1910

Das Bild ist von Edward Matthew Hale (1852 - 1924)

Dienstag, 11. April 2023

Camill Hoffmann: Verschlossene Gärten

 



Verschlossene Gärten

Die Winde erzählen am einsamen Hang
Vom Frühling den wartenden Gärten;
Da wird den Gärten vom Lauschen bang,
Sie wissen nicht mehr wie lang, wie lang
Ihre traurigen Tage währten.

In ihren Träumen nur brennt noch hell
Ein heißes heimliches Sehnen
Nach einem springenden Silberquell
Und einer Frau im Rosenrondell
Mit sanften Cantilenen.

Nichts ist den Gärten so wunderbar
Wie ein Lied aus dem Menschenleben;
Drin ist der Liebe süße Gefahr,
Das Schicksal, finster, wild und wahr,
Und der Herzen verschwiegenes Beben.

Sie wussten nichts von der bleichen Frau,
Sie liebten bloß ihr Singen. . .
Das war so mild wie rieselnder Thau
Und machte die Abende weit und blau.
Wer wird das wiederbringen?

Denn eine Ahnung von großem Gram
Trat in ihr schweres Träumen. –
Und als der Frühling in Blüten kam
Und rings die Welt im Sturme nahm,
Da mussten sie ihn versäumen.

Der Dichter Camill Hoffmann wurde am 31. Oktober 1878 in Kolín, Böhmen geboren; im Oktober 1944 wurde er im KZ Auschwitz ermordet. Aus: Aus: Adagio stiller Abende, Gedichte von Camill Hoffmann, Verlegt bei Schuster & Loeffler Berlin und Leipzig 1902. Die Illustration ist von Adolf Zradila (1868 - 1942), der diesen Gedichtband mit zwanzig Holzschnitten bebilderte und zu dem Gedicht gehörig.

Montag, 10. April 2023

Elsa Asenjieff: Lebenskraft

 




Lebenskraft

Jung – ein ewiger Frühling ist die Welt
Und was da stirbt
Sagt selbst, es will vergessen sein.
Des Lebenden gedenkt,
Das selber neues Leben schenkt.
Schafft Räusche ohne Wein …!
Soll kommen, was da mag –
Froh ragen meine Brüste in den Tag!
So will ich über die Erde gehen,
Meine Augen sollen das Heute sehen
Und mein Mund ein Schwert sein,
Der das Greisenhafte tötete:
Heißa, junge, starke Welt!

Elsa Asenijeff, geboren am 3. Januar 1867 in Wien, gestorben am 5. April 1941 in der „Korrektionsanstalt für asoziale und arbeitsunwillige Erwachsene“ in Bräunsdorf, in die sie von den Nationalsozialisten „verbracht“ wurde, der Aktenlage nach an Lungenentzündung.

Das Portrait "Elsa im Freien" ist von Max Klinger (1857 - 1920), dessen Muse und Geliebte sie von 1898 - 1916 war.

Sonntag, 9. April 2023

Lesung am 10. 5. 2023 in der Alten Schule Fredelsloh: Die verbrannten Dichterinnen und Dichter

 



Am 10. 5. 2023 um 19:30 in der Bibliothek der Alten Schule Fredelsloh:

"Verbrannte Dichterinnen und Dichter"

Lesung mit Musik zum Gedenken an die Bücherverbrennung 1933

Vortragender: Jörg Krüger, Fredelsloh


Eine Veranstaltung der Reihe "Texte und Töne in Fredelsloh" des Bildungswerkes Leben und Umwelt e. V., Alte Schule Fredelsloh 


Vorgetragen werden Werke von Marianne Cohn, Alfred Schmidt-Sas, Emma Bonn, Kurt Tucholsky, Lotte Brunner, Jakob Haringer, Charlotte Wohlmuth 


Eintritt frei, Spende wäre nett.


Elsa Asenijeff: Lasst die Bäume noch glücklich sein!

 



Lasst die Bäume noch glücklich sein!

Brecht nicht herein!
Lasst die Bäume noch glücklich sein!
Sie atmen, sesshaft in den Boden gestellt,
Eine reine, klare, sittliche Welt!
Nur wie ein Traum weht ihr Sehnen,
Hinüber und herüber
Aus tiefster Säfte getragener Traumesfieber!
Alle Jahre! alle Jahre werden sie wieder
Frisch! Voll Frühlingsbegeisterung!
Und tausend Jahre sehen sie wieder jung!
Alljährlich im frischen Knospensprung!
So wachsen sie hinein in Ätherbläue
Ohne Schuld und ohne Reue – – –
Laßt die Bäume noch glücklich sein!
Schöpfungsatmend! Lebensfeiernd! Menschenallein!

Elsa Asenijeff, geboren am 3. Januar 1867 in Wien, gestorben am 5. April 1941 in der „Korrektionsanstalt für asoziale und arbeitsunwillige Erwachsene“ in Bräunsdorf, in die sie von den Nationalsozialisten „verbracht“ wurde, der Aktenlage nach an Lungenentzündung.

Einem zweijährigen Aufenthalt in der Heilanstalt Leipzig-Dösen, folgte 1926 die Überstellung nach Hubertusburg und schließlich als „nicht gemeingefährlich“ in das Versorgungshaus Colditz. 1933 siedelten die Nationalsozialisten diese Einrichtung als „Korrektionsanstalt für asoziale und arbeitsunwillige Erwachsene“ nach Bräunsdorf bei Freiberg um.

Aus dieser Zeit, von ihr datiert 1938, stammt ein Manuskript mit über 200 Gedichten mit dem Titel „Bilanz der Moderne“. Diese Gedichte, inzwischen veröffentlicht, und auch Krankenakten belegen, dass sie nicht geisteskrank war. Bräunsdorf war auch keine Anstalt für Geisteskranke.

1922 meldet sie sich mit dem Buch "Aufschrei - Gedichte in freien Rhythmen" zu Wort: "Wie rett ich Dich, o Welt, vom Menschen;/ ohne ihn zu vernichten!/…./Wie halt ich Milliarden Hände!/ Die sich schändend an Dir vergehen/…/Welch ein Mund,/Ihnen zu verkünden: Das Paradies hat euch geboren,/Und die Hölle habt Ihr geboren!/ Laßt noch Sterne über ihren Dünsten leuchten,/Hell brennende Gold- und Edelsteine als Grund,/Blütenüberschütteter Boden dazwischen…." Sie appellierte an alle, sich für das Leben und den Fortbestand der Erde verantwortlich zu fühlen.

Von 1898 bis 1916 war sie Muse und Geliebte des Malers und Bildhauers Max Klinger (1857 - 1920), der sie häufig malte.

Das Bild „Stamm und Äste im Frühjahr“ (1930) ist von Leon Spillaert (1881 - 1946)

Samstag, 8. April 2023

Dietrich Bonhoeffer: Wer bin ich?

 



Wer bin ich?

Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich träte aus meiner Zelle
gelassen und heiter und fest
Wie ein Gutsherr aus seinem Schloss.

Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich spräche mit meinen Bewachern
frei und freundlich und klar,
als hätte ich zu gebieten.

Wer bin ich? Sie sagen mir auch,
ich trüge die Tage des Unglücks
gleichmütig, lächelnd und stolz,
wie einer der Siegen gewohnt ist.

Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen?
Oder bin ich nur, was ich selbst von mir weiß?
Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig,
ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle,
hungernd nach Farben, nach Blumen, nach Vogelstimmen,
dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe,
zitternd vor Zorn über Willkür und kleinlichste Kränkung,
umgetrieben vom Warten auf große Dinge,
ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne,
müde und leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen,
matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen?

Wer bin ich? Der oder jener?
Bin ich denn heute dieser und morgen ein andrer?
Bin ich beides zugleich? Vor Menschen ein Heuchler
und vor mir selbst ein verächtlich wehleidiger Schwächling?
Oder gleicht, was in mir noch ist, dem geschlagenen Heer,
das in Unordnung weicht vor schon gewonnenem Sieg?

Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott,
Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott.

Dietrich Bonhoeffer, geboren am 4. Februar 1906 in Breslau; wurde am 9. April 1945 im Konzentrationslager Flossenbürg hingerichtet.

Aus: Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, herausgegeben von Christian Gremmels, Eberhard Bethge, Renate Bethge und Ilse Tödt, 1998

Das Foto zeigt Dietrich Bonhoeffer 1932 mit Schülern. Bundesarchiv, Bild 183-R0211-316 / CC-BY-SA 3.0

Freitag, 7. April 2023

Moriz Seeler: Der Gott des Frühlings

 



Der Gott des Frühlings

Der weiße Gott des Frühlings saß am Hang,
Das Haupt, das licht war, nur von Licht beschienen,
Den Kranz sich flechtend, der ihm schön gelang,
Und traulich Zwiesprach` pflegend mit den Bienen.

Sie flogen ganz verliebt zu seinem Haar
Und saßen auf den Lippen, bei den Augen,
Weil er so rein und voller Süße war,
Als könnten sie gleich Honig von ihm saugen.

Sie machten summend Rast an seinem Kinn,
Umtummelten ihn, schwärmetn, spielten, haschten,
Er streckte lockend seine Finger hin,
An dem sie wie von einer Blume naschten.

Auch raunten sie ihm vielerlei ins Ohr,
Berichteten ihm gern als fromme Späher.
Zuweilen beugte er sich etwas vor,
Dann krochen und bewegten sie sich näher.

Als nun die Luft vor lauter Licht zerschmolz
Und als er seinen Frühlingskranz geflochten,
Nahm er das Flötenspiel aus Weidenholz
Und blies das Lied, das sie so gerne mochten.

Da wurden seine Bienenfreunde stumm
Und wagten´s kaum, die Flügelchen zu heben.
Sie hielten ein mit jeglichem Gesumm,
Um sich dem Klang des Gottes hinzugeben.

Hernach befiel den Gott ein sanfter Schlaf.
Die Bienen blieben, um ihn zu bewachen.
Ein Wandrer, der vorbeikam und ihn traf,
Erzählt, der Schlummernde schien hold zu lachen.

Moriz Seeler, aus: Die Flut, Gedichte, Verlag von Richard Lanyi, Wien 1937

Moriz Seeler (geboren 1. März 1896 in Greifenberg in Pommern als Moritz Seeler; ermordet am 18. August 1942 im Wald von Rumbula oder Bikernieki bei Riga) war ein deutscher Theaterregisseur, Schriftsteller, Filmproduzent. Aus dem Kriegsdienst 1916 entlassen, hielt er sich in Berlin auf und verfasste Gedichte und Sketche und verkehrte in den Berliner literarischen Caféhäusern wie dem Romanischen Café. Else Lasker-Schüler widmete ihm 1920 den Prosatext Hans Heinrich von Twardowsky. Seeler schrieb für die Zeitschrift Der Feuerreiter. Er gründete 1922 und leitete bis 1926 die „Junge Bühne“, die ohne festes Personal für Nachwuchsschauspieler in den etablierten Theatern Auftritte in Sonntagsmatineen organisierte. Arnolt Bronnens Vatermord machte die Reihe 1924 bekannt, da es zu einem Theaterskandal kam. Eine Reihe von Schauspielern, Regisseuren und Dramatikern fand durch Produktionen der „Jungen Bühne“ ihren Einstieg in eine Karriere, Seeler produzierte 1926 mit Bertolt Brecht die Berliner Erstaufführung des Baal. Marieluise Fleißers Fegefeuer in Ingolstadt wurde 1926 bei Seeler uraufgeführt, ebenso Hans Henny Jahnns Die Krönung Richards III. und bereits 1924 Carl Zuckmayers Pankraz erwacht oder Die Hinterwäldler.

Nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten floh Seeler 1933 nach Prag und Wien, kehrte aber, da er keine Arbeit fand, 1935 in das Deutsche Reich zurück. Dort arbeitete er in noch halbwegs geduldeten Bühnenproduktionen mit Agnes Straub und Günther Weisenborn zusammen und war für den Jüdischen Kulturbund Rhein-Ruhr tätig. 1937 veröffentlichte er in einem Wiener Verlag einen Gedichtband, der unter anderem von Kurt Pinthus in der CV-Zeitung rezensiert wurde. Ab 1938 hielt er sich wieder in Berlin auf, ohne im Theater arbeiten zu können, wurde dann aber als Zwangsarbeiter eingesetzt. Während der Novemberpogrome 1938 wurde Seeler kurzzeitig verhaftet. Von Berlin aus wurde Seeler am 15. August 1942 in das Ghetto Riga deportiert.

Seeler wurde am 18. August 1942 im Wald von Rumbula (oder Bikerniek) ermordet. (Wiki)

Das Bild „Der Imker“ ist von Iwan Nikolajewitsch Kramskoi (1837 - 1887)

Donnerstag, 6. April 2023

Moriz Seeler: Grab eines Dichters

 



Grab eines Dichters 

Immer segeln Wolken, weiße Dschunken, 
Über diesem Grab und schimmern blank. 
Doch der Hügel ist schon eingesunken, 
Und das Kreuz steht schräg im Untergang. 

Niemand haust und wohnt in diesem Grabe, 
Und da west kein abgestorbner Rumpf. 
Der drin lag, flog fort und sitzt als Rabe 
Irgendwo auf einem Weidenstumpf. 

Stumm und schwarz und frierend blieb er hocken. 
Aber einmal wird er gräßlich schrein — 
Und dann stürzt der Bau der Welt erschrocken 
Wie ein Ankersteinbaukasten ein.

Aus: Versensporn 24. Moriz Seeler, Jena: Edition Poesie schmeckt gut, 2016

Das Bild ist von Adam Chmielowski (1845 - 1916)

Moriz Seeler (geboren 1. März 1896 in Greifenberg in Pommern als Moritz Seeler; ermordet am 18. August 1942 im Wald von Rumbula oder Bikernieki bei Riga) war ein deutscher Theaterregisseur, Schriftsteller, Filmproduzent. Aus dem Kriegsdienst 1916 entlassen, hielt er sich in Berlin auf und verfasste Gedichte und Sketche und verkehrte in den Berliner literarischen Caféhäusern wie dem Romanischen Café. Else Lasker-Schüler widmete ihm 1920 den Prosatext Hans Heinrich von Twardowsky. Seeler schrieb für die Zeitschrift Der Feuerreiter. Er gründete 1922 und leitete bis 1926 die „Junge Bühne“, die ohne festes Personal für Nachwuchsschauspieler in den etablierten Theatern Auftritte in Sonntagsmatineen organisierte. Arnolt Bronnens Vatermord machte die Reihe 1924 bekannt, da es zu einem Theaterskandal kam. Eine Reihe von Schauspielern, Regisseuren und Dramatikern fand durch Produktionen der „Jungen Bühne“ ihren Einstieg in eine Karriere, Seeler produzierte 1926 mit Bertolt Brecht die Berliner Erstaufführung des Baal. Marieluise Fleißers Fegefeuer in Ingolstadt wurde 1926 bei Seeler uraufgeführt, ebenso Hans Henny Jahnns Die Krönung Richards III. und bereits 1924 Carl Zuckmayers Pankraz erwacht oder Die Hinterwäldler.

1927 schrieb er Texte für Friedrich Hollaenders Kabarettprogramm Bei uns um die Gedächtniskirche rum, das dieser im Theater am Kurfürstendamm mit Anni Mewes, Marion Palfi, Martin Kosleck, Hubert von Meyerinck und Willi Schaeffers auf die Bühne brachte.

In der von Seeler gegründeten und geführten Produktionsfirma „Filmstudio 1929“ wurde 1929 der halbdokumentarische Stummfilm Menschen am Sonntag hergestellt, das Filmplakat wies Moritz Seeler Leiter, Robert Siodmak Regisseur, Billie Wilder Manuskript, Eugen Schüfftan Kamera aus, weitere, auf dem Plakat ungenannte Mitarbeiter waren Curt Siodmak, Edgar G. Ulmer und Fred Zinnemann. Die Schauspieler waren außer Valeska Gert und Kurt Gerron Amateure. Seeler wirkte auch an der künstlerischen Realisierung mit.

Nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten floh Seeler 1933 nach Prag und Wien, kehrte aber, da er keine Arbeit fand, 1935 in das Deutsche Reich zurück. Dort arbeitete er in noch halbwegs geduldeten Bühnenproduktionen mit Agnes Straub und Günther Weisenborn zusammen und war für den Jüdischen Kulturbund Rhein-Ruhr tätig. 1937 veröffentlichte er in einem Wiener Verlag einen Gedichtband, der unter anderem von Kurt Pinthus in der CV-Zeitung rezensiert wurde. Ab 1938 hielt er sich wieder in Berlin auf, ohne im Theater arbeiten zu können, wurde dann aber als Zwangsarbeiter eingesetzt. Während der Novemberpogrome 1938 wurde Seeler kurzzeitig verhaftet. Von Berlin aus wurde Seeler am 15. August 1942 in das Ghetto Riga deportiert.

Seeler wurde am 18. August 1942 im Wald von Rumbula (oder Bikerniek) ermordet. (Wiki)


              

Mittwoch, 5. April 2023

Erich Mühsam: Das Verhör

 



Das Verhör

Sie heißen? fragte mich der Direktor.
Ich nannte den Namen.
Geboren?
Ja!
Wann? meine ich.
Ich nannte das Datum.
Religion?
Geht sie nichts an.
Schreiben sie also: mosaisch! - Der Beamte schrieb.
Was tun sie?
Ich dichte.
Wa-s?
Ich trinke.
Delyriker! schrieb der Beamte.

Das Verhör dauerte noch lange. Schließlich wurde mir die Fragerei zu bunt. Zum Donnerwetter! schrie ich. Bin ich denn hier in einem Tollhaus?
Allerdings, erwiderte der Direktor freundlich und ließ mich in eine Zwangsjacke stecken.

Erich Mühsam, aus der Sammlung „Der Krater“ Berlin 1909

Erich Mühsam (6. 4. 1878 - 10. 7. 1934), Dichter, Anarchist, Suchender mit kindlichem Herzen, Mitinitiator der Münchner Räterepublik, dafür von den Nazis gehasst und schließlich im KZ Oranienburg ermordet.

Das Foto zeigt ihn In der Festungshaftanstalt Ansbach (1919)


Dienstag, 4. April 2023

Georg Heym: April

 



April

Das erste Grün der Saat, von Regen feucht,
Zieht weit sich hin an niedrer Hügel Flucht.
Zwei große Krähen flattern aufgescheucht
Zu braunem Dorngebüsch in grüner Schlucht.

Wie auf der stillen See ein Wölkchen steht,
So ruhn die Berge hinten in dem Blau,
Auf die ein feiner Regen niedergeht,
Wie Silberschleier, dünn und zitternd grau.

Georg Heym (1887 - 1912), aus: Der ewige Tag, Rowohlt – Verlag, Leipzig 1911

Das Bild ist von Ludwig Willroider (1845 - 1910)

Montag, 3. April 2023

Sophie Hoechstetter: Liebesnacht, Toni Schwabe: Nie traf ich einen. . . / Hymne

 



Liebesnacht

Uns leuchtete noch keine Nacht so tief
Wie dieses Sommers schwere Liebesnacht,
Da dir dein Herz erwacht, die dir mein Herz gebracht
Die uns zum Leben rief –

Spürst du – fern sinkt das letzte Schweigen,
Fern klingt der Reigen
Verdämmernder Lieder der Einsamkeiten
Gieb mir die Hand,
Erobererland
Liegt viel noch in uns beiden.

Ich fühle, wie Mund und Hände mir begnadet sind
Ich fühle, wie dein Blut zum Herzen rinnt –
Fühlst du die Nacht? Noch keine war so still –
– So still, als seien alle Tränen ausgeweint
So still, als trüge sie Tod und Unsterblichkeit vereint –
Wie diese, die uns zu den Göttern führen will.

Aus: Vielleicht auch träumen, Verse von Sophie Hoechstetter, Bei Georg Müller, München und Leipzig, 1906


Nie traf ich einen. . .

Nie traf ich einen, der stärker als ich
Mir der Liebe Zügel entrissen hat.
Wen ich schwächer fühlte, dem weigert ich mich,
So daß mich nie einer besessen hat.

Ich küßte nur solche, die Liebe sehnten
Und die, wie ich, den Stärkeren wollten
Und machte, daß sie sich an mich lehnten
Und nicht mehr Liebe entbehren sollten.

Mich – mich allein konnte keiner erlösen –
Und ob ich auch alles von Liebe wüßte:
Ueber mir ist noch keiner gewesen,
Keiner, dem ich mich ergeben müßte.

Aus: Toni Schwabe: Komm, kühle Nacht! Verse. München: Georg Müller, 1908


Hymne

Nach allem Grenzenlosen,
nach Wasser – Luft – den unendlichen Himmeln
nenn ich dich, Geliebte.
Mit dir zusammen stürzte ich
durch die Jahrtausende,
mit dir umschlang ich
zerbrechende Welten,
in dir begriff ich
aller Maße Übermaß –
und erfasste jäh
den Sinn der Liebe:
Ewigkeit.

Toni Schwabe

Sophie Hoechstetter, geboren am 15. August 1873 in Pappenheim, gestorben am 4. April 1943 in der Moosschwaige bei Dachau war Schriftstellerin, Dichterin und Malerin.

Toni Schwabe, Schriftstellerin, Verlegerin, Erzählerin, Lyrikerin, geboren am 31. März 1877 in Bad Blankenburg, gestorben am 17. Oktober 1951 ebendort.

Die beiden Schriftstellerinnen führten von 1902 bis 1905 eine Lebensgemeinschaft. Die Fotos zeigen links Toni Schwabe um 1906, rechts Sophie Hoechstetter um 1902.

Sonntag, 2. April 2023

Jakob Haringer: Erinnerung und andere Gedichte

 



„und die weiße Landschaft lag unberührt vor mir /
wie der Weg ins Paradies.“

Als der Dichter Jakob Haringer, geboren am 16. März 1898, am 3. April 1948 in Zürich an einem Herzinfarkt verstorben aufgefunden wurde, steckte in einer Schreibmaschine ein Stück Papier, auf dem diese beiden Zeilen standen.


Elegie

Einmal möcht ich wie ein Kind noch leben ,
Möchte rein sein, ach, und wahr und klein!
Das wär wohl ein schönstes größtes Leben,
Manchmal noch ein dummer Junge sein,
Ach, so wunschlos in die Wolken blicken,
Oder nachts zum lieben guten Mond. . .
Sich an einem Wanderlied entzücken,
Oder einem fremden duftend Blond.
Große unentdecke Inseln malen,
Oder Schlösser, die man dann sich kauft;
Ach, wie klein sind alle Erdenqualen,
Weil du froh der ganzen Welt vertraust!
O, du Jugend! Deine Morgenröte. . .
Kommst du noch mal in dies schwere Herz?
Sanft wie längst vergessne Zauberflöte -
Was zerbrach dich du mein Knabenherz?

Handschriftliches Manuskript um 1940


Märchen

Du warst mein Paradies. O bittres Leid!
Dies nun zu wissen, wo du leis gegangen.
Mit dir ist auch mein Stern dahingegangen,
Nun ist mein letztes Glück vorbei, verschneit.
Das Leben war bloß Traum. Nur du warst das
Erwachen. Und der ganze Mai bloß du!
Leb wohl, oh, du mein letztes Rendezvous,
Mein Herz brach wie ein altes Purpurglas,
Wie hat es deine Sonne einst durchschimmert. . .
Dies ist vorbei! Und nun ist Nacht um mich.
Die ganze Welt ist mir ein Sterbezimmer,
Die, als du da, dem blauen Sommer glich.
Nur deine Stimme klingt noch einmal fern. . .
Leb wohl! Mein lieber kleiner Abendstern!

Handschriftliches Manuskript um 1940


Ewige Liebe

Du warst nur immer auf Besuch -
Du warst nie ganz bei mir.
War alles bloß ein süßer Fluch,
Und alles bang und irr.
Dein Herz war nie zu Haus bei mir,
Die Liebe hielt nur Rast.
Mein Glück, mein Leben gab ich dir -
Es war dir bloß ein Gast.
So wie ein Glas, aus dem man trinkt,
Man wieder bald vergißt,
Wie eine Saite, die noch klingt,
Obwohl kein Lied mehr sprießt,
So wie ein halb gelesnes Buch -
Die Tür fiel längst schon zu.
Du kamst nur immer auf Besuch . . .
Du letztes Märchen, du!

Aus: Haringer Das Fenster
Pegasus Verlag Zürich 1946


Die Zecher

Zwei Gäste kamen spät abends,
Als schon ganz weiß mein Haar;
Der eine war wieder die Liebe,
Der andre die Trauer war.
Ich habe sie fürstlich empfangen,
Die Liebe und den Wahn,
Und kredenzt ihnen all meines Lebens
Ganze Schmerzen und Gram.
Und als wir bis morgens gezecht . . . da
Ward plötzlich die Träne zum Glück!
Was mach ich bloß mit so viel Liebe -
Was mach ich mit so viel Glück?

Aus: Haringer Das Fenster
Pegasus Verlag Zürich 1946


Erinnerung

Weiß du noch, mein totes Lieb . . . es war ein Abend im Mai,
Du schlossest den Laden, dein Prinzipal sagte dir gute Nacht,
Wir standen dann bang vor den Schauläden und
wünschten uns Geld wie Heu,
Du kauftest Wurst und Brot, und wir haben alle Welt ausgelacht,
Dann gingen wir zum Stadttor hinaus
in den blühenden Sterngarten,
Du holtest an der Schänke Bier und Zigaretten,
Du konntest nicht die junge Kellnerin erwarten,
Dein lieb's Kinderplaudern wollte mein Leid
in den schönen Abendhimmel betten.
Du träumtest von einem kleinen Bubi, der Marlitt, einem neuen Kleid
Plötzlich bemerktest du im grauen Strumpf ein winziges Loch.
Mein Herz verglühte zu silbern Bergfeuern
an deiner goldnen Mädchenzeit,
In meiner Seele armer Lampe flackerte sommerschwül
deiner Küsse Docht.
Ach, mein Lieb! nun zierst du wohl süß
das Abendrot einem andern,
Ich hatte ja keine Existenz, war so arm,
da ist's doch selbstverständlich, daß man ein Ende macht,
Aber ich werd's nie, nie vergessen,
unser süßes Abendwandern,
Deine heiße Liebe, deine gütigen Worte
in dieser einzigen himmlischen Nacht.

Aus: Die Dichtungen von Haringer
Gustav Kiepenheuer Verlag Potsdam 1926
(Kraus Reprint 1973)


Sonett an die Treue


Kind, ich hab schon Lieder auf deine Untreu geschrieben,
Und nun sitzen wir wieder so fröhlich beisammen,
Silbern glänzen uns wieder Gottes sternige Kammern,
Und der alte Mond will wieder sein altes schönes Knabenlied üben.
Orangne Bar, du grüner Trauerampeln blonder Sekt,
Blaues Kinderdonnern brauner Junigeigen -
O Lieb, heut nach Mitternacht wirst du dich so mutterlieb wieder neigen,
O du kleiner Vogel, der im dunkeln Gezweig meiner Seele
verjubelt und Gottes rote Veilchen neckt.
So laß uns einmal wieder Gott und die Welt vergessen,
Sieh, schon rauschen des letzten Sterbens Sommerzypressen,
Einmal laß uns noch dumme Kinder sein und glücklich weinen -
Wenn auch morgen für uns keine Sterne mehr scheinen.

Aus: Die Dichtungen von Haringer
Gustav Kiepenheuer Verlag Potsdam 1926
(Kraus Reprint 1973)


Lied am Abend für meine Geliebte


Was ist ein Frauenlächeln für seltsam Ding!
Und gibt es Worte für dunkle Zypressen?
Was ist die Sonne - ihr Glauben das Kind umfing,
Was ist ein Frauenweinen für seltsam Ding?
Hast Du die Lieder der Schwermut schon ganz vergessen?
Noch blühn die Flammen im Herzen und sternen das Land
Und suchendes Ringen wächst steilen Bergen vor . . .
O wilder Schein! löst Du die Runen im Sand - -
Soll ich sie klären? Der ich den Weg verlor . . .
Bald bin ich einsam schluchzend vorm goldnen Tor -
Vergessen harrend - wer läßt mich Toten ein?

Aus: Jakob Haringer Die Kammer
Regensburg Franz Ludwig Habbel 1921


René Schwachhofer schrieb 1947 in der verdienstvollen Auswahl vergessener, von den Faschisten verfemter Lyriker "Vom Schweigen befreit":

„Haringer hat einige der schönsten deutschen Gedichte geschrieben; sie könnten im Volksmund umgehen. Einst wird man fragen: Wer war ihr Verfasser?“

Alfred Döblin über Jakob Haringers Lyrik:

„Die Gedichte sind echtes Gewächs, keine lyrische Ware. Dreierlei gehört zur Kunst: einmal, daß einer etwas ist, – einmal, daß er zu sich gefunden hat, – einmal, daß er etwas kann. Das ist dreifache Gnade. Haringer schreibt, wie ihm zu Mut ist. Dabei wäre nichts. Aber er ist von Haus aus Lyriker und Könner. Und darum ist es alles. Selbst wenn die Gedichte zu einem Teil sich formal nicht schließen, als Einzelwesen schwer bestehen. Woran denke ich bei diesen Stücken? An Tübingen, Hölderlin, die Maler Spitzweg, an Richter, Blechen. Eine sehr deutsche Pflanze. Verschollener Typ eines vagierenden Poeten. Er schreibt von Kinos, Cafés, aber fühlt Rothenburg und Nürnberg…“

Emma Bonn: Ich habe meinen Vater sterben sehen. . .

 


Ich habe meinen Vater sterben sehen,
Das war, als Gott ihm seinen Hauch entzog
Und jählings eine Stille mich anflog.
Durchs Zimmer ging ein leises kühles Wehen.

Und eh die Träne fiel, durft´ ich verstehen,
Bevor der Schmerz mich traf und niedersog
Wie hier des Todes Hand stumm seine Runen zog:
Nun war die Schrift geprägt. Und im Vergehen

Vollendete der Leib sich, überglänzt
Von einem Licht, das unserem Aug´ verborgen,
Erschlossen einem Sein, das uns noch fremd;

Das Wachs der hohen Stirn von Fittichen umkränzt,
Der streng verschwiegne Mund vom wahren Morgen,
Uns still entrückt in seinem Sterbehemd.

2. April 1935

Emma Bonn (1879–1942) aus: Angela von Gans, Emma Bonn (1879 – 1942). Spurensuche nach einer deutsch-jüdischen Schriftstellerin, Oktober 2021, STROUX Edition.

Anfang Juni 1942 wurde in München das das Israelitische Kranken- und Schwesternheim aufgelöst. Unter den Patientinnen und Patienten, etwa 50, die am 3. Juni in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert werden, befand sich auch die Schriftstellerin Emma Bonn. Wahrscheinlich kam sie am 4. Juni dort an und starb zwei Wochen später.

Hier geht es zum Buch von Angela von Gans