Dienstag, 18. April 2023

Alfred Günewald, aus: Renatos Gesang - Einkehr (13 / 14)


 

Aus: Renatos Gesang – Ein Buch der Einsamkeit

Einkehr

13


Ich leg mein Ohr an einen Baum und höre
des Baumes Herzschlag. Meine Blicke dringen
durch Nebel, ihre Trübe zu bezwingen,
und seltsame Gesichte ich beschwöre.

Der Vogel Glü, den ich im Schlafe störe,
tut einen Silberruf und regt die Schwingen.
Dort nickt das Abendmännlein. Grillensingen
wird zum Choral, daß es mich auch betöre.

Es blüht der Himmel — eine Rose zart.
Und immer neues Wunder will sich zeigen.
Doch was sich meinem Staunen offenbart,

ist tieferes Geheimnis. Von den Zweigen
tropft goldner Tau. Der ist von Stemenart.
Der Quelle Flüstern ist wie ein Verschweigen.

14

Ich ging mich suchen, doch ich fand mich nicht
in meinem Herzen, nicht im Schwärm der Menge.
Wo bin ich? rief ich oft in Angst und Enge.
In allen Spiegeln sucht ich mein Gesicht.

Und eines Fremden Auge sah ich dicht
vor meinem Blick und fühlte seine Strenge,
als ob ein fremdes Wissen mich bezwänge.
Es stiegen Schatten auf im fahlen Licht.

Nun aber weiß ich, töricht war mein Bangen.
Ich hab in alle Lüfte mich gestreut
und kann mich tausendfach zurückverlangen.

Im Sturm verloren, bin ich sturmbetreut.
Der Fesseln bar, bin ich zutiefst verbunden.
Ich suchte nimmer und ich hab gefunden.

Alfred Grünewald, Verlag Paul Stern, Wien 1921

Alfred Grünewald wurde am 17. März 1884 in Wien geboren. Nach den Novemberpogromen 1938 wurde er am 14. November 1938 in das KZ Dachau verbracht, im Januar 1939 wurde er wieder entlassen. Er floh über die Schweiz nach Südfrankreich, nach Kriegsausbruch wurde er in der Fort-Carré in Antibes und im Lager Les Milles interniert, bis Herbst 1942 lebte er in Nizza. Dort wurde er von der Polizei des Vichy-Regimes festgenommen und an die SS ausgeliefert. In Auschwitz wurde er am 9. September 1942 ermordet.

„Sie sagten ferner, daß auf einer der beiden, hier vorhandenen Einsiedeleien sich ein vornehmer französischer Cavalier, namens Renato, als Einsiedler . . . befände“ (Cervantes, aus: Irrfahrten des Persiles und der Sigismunda, eine nordische Geschichte, Cervantes sämtliche Werke, Leipzig 1825)

Das Bild ist aus einem Alchemiebuch aus dem 17, Jahrhundert, Autor unbekannt.

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