Freitag, 30. August 2019

Heinrich Steinitz: Immer

Heinrich Steinitz um 1910




Immer

Immer muss ich an die armen Raubvögel in den Käfigen denken,
wie sie stumm dasitzen und die entsehnten Flügel senken
oder kläglich mit ihnen schlagen,
die sie einst durch die Freiheit der Lüfte getragen
und jetzt versagend nur noch dazu langen,
dass sie flattern können zu den niederen Stangen.
Nie konnt ́ ich ohne heißes Erbarmen und Grauen
diese furchtbare Hilflosigkeit schauen,
immer war mir, als ob diese vergrämten
traurigen Blicke uns selbst beschämten,
die vor soviel Schmach und Entsetzen
müßig sich stellten zu Gaffen und Schwätzen!
Immer sind sie mir als Bild der tiefsten Erniedrigung erschienen,
immer schon sie!  -  und jetzt gleiche ich selber ihnen.

Aus: „Lyrisches Tagebuch“, Heft 1




Heinrich Steinitz, geboren am 30. August 1879 in Bielitz, Österreichisch-Schlesien; ermordet im Oktober 1942 im KZ Auschwitz, Rechtsanwalt und Schriftsteller.

Mittwoch, 28. August 2019

Wilhelm Holzamer: Glück / Letzte Fahrt

Wilhelm Holzamer 1904


„Wir brauchen das Neue und Weite, das Ziel des Ziellosen, die Unendlichkeit unbegrenzter Verwirklichungen immer neuer Erkenntnis- und Gefühlsaufklänge brauchen wir, in denen viele Dinge ein Recht haben, nebeneinander zu bestehen! Die neue Welt muß eine offene werden - die alte ist eine verschlossene.“ aus: Der Entgleiste, 1906

Glück

Ein grünumranktes Fenster,
die Scheiben blind und blau,
den Blick auf stille Wälder
und grüne Tannenau.

Im Stübchen hingebreitet
hellichter Sonnenschein,
ein Tisch und drum zwei Stühle,
und du und ich allein.

Vom Garten hinterm Hause
der Kinder Lärm und Spiel;
ein Jubeln, wenn vom Baume
ein halbreif Äpflein fiel.

Das ist die Welt, die weite,
die ich mir treu behielt,
drin sich ein Herz dem andern
stets wieder neu befiehlt.


Letzte Fahrt

So hab' im Traum ich unser Boot gesehn
Rauschend durch die Wogen streichen,
Am Maste breit ein rotes Wimpel wehn,
Flatternd über zwei umschlungnen Leichen --
Und am Steuer sah ich Ihn, den bleichen
Lenker, wie er lächelnd auf uns schaute,
Da der Morgen freundlich uns mit seinem Kuß betaute.


Wilhelm Holzamer wurde am am 28. März 1870 in Nieder-Olm geboren; gestorben ist er am 28. August 1907 in Berlin an Herzversagen in Folge einer Diphtherie.

Ludwig Bäumer: Dämmerung im Graben

Kurt Schwitters (1878 - 1948): Das "Bäumerbild"


Dämmerung im Graben

Wir sind längst mehr als dreimal verleugnet. In unsern Gebärden
Fielen alle Sehnsüchte zusammen, alle die waren
In unsern Müttern und Vätern. Wir stehn vor unsern Bahren
Und fangen Tode auf, damit wir zu Ende werden.

Denn das ist unser Sinn: Wir sind Kinder einer Zucht ohne das Sträuben
Von Kindern gegen ihre Zucht. Stärkelos! Wir haben die Augen
Die im eigenen Gehirn wühlen und Schmerzen saugen.
Wir sind längst mehr als dreimal verleugnet
Und müssen mehr als einen Gott betäuben.

Uns ist keine Wiederkehr gesegnet und unserm Weinen kein Amen
Zärtlicher Munde, die einmal vor Süße brachen.
Unsere Mütter versagten,
Die uns beklagten:
Wir staunen über die, die den Weg der Mütter kamen.

Und das verläßt uns nicht. — — Vielleicht wenn wir einmal wissen,
Daß wir Kinder des Irrtums sind und darum Unverzeihliche der Zeit,
Vielleicht dann ... Was? ... Stärkelos ... Ein Land bleicht weit,
Und viele fielen, und wir sehnen uns in reine Kissen.

(Bereitschaft 1. Februar 1916.)

Aus: 1914 - 1918, Eine Anthologie, Verlag der Wochenschrift Die Aktion (Franz Pfemfert, Herausgeber), Berlin-Wilmersdorf, 1916

Ludwig Bäumer, geboren am 1. September 1888 in Melle; gestorben am 28. August 1928 in Berlin lebte ab 1910 in der Künstlerkolonie Worpswede. Am Ersten Weltkrieg nahm er als Unteroffizier teil, wandelte sich dann jedoch zum Kriegsgegner und war während der Novemberrevolution in Bremen als kommunistischer Politiker aktiv. Ende 1918 war er Delegierter auf dem Gründungsparteitag der KPD in Berlin. Im Januar 1919 wurde er Mitglied des Rates der Volksbeauftragten der Bremer Räterepublik.

Bäumer wohnte bis 1922 weiter in Worpswede, schließlich als freier Schriftsteller in München und Berlin. Am 28. August 1928 nahm er sich in Berlin das Leben.

Kurt Schwitters widmete ihm 1920 das "Bäumerbild" 

Montag, 26. August 2019

Franz Werfel: Schwermut





Schwermut

Es steht eine Sägemühle im Wald.
Ich bin als Kind vorübergefahren.
War das vor hundert Jahren?
Jetzt bin ich nicht jung und nicht alt.
Doch ich weiß in der Straßen Lärmgefahren:
Ein Wasser schellt und schallt
Und wirft mit raschen, mit blauen Haaren
Übers Rad seine heilige Gewalt.

Heut ist der Holunderbaum schon abgeblüht
Und knarrte erst gestern in Frost und Schnee!
Wer rechnet das aus? Ich habe Heimweh,
Während ich doch in der Heimat steh.
Ich sprang ja kaum aus dem Bett und bin schon müd.
Knaben rennen und wälzen sich wild durchs Gras.
Sie halten unter die alte Pumpe ihr brennendes Gesicht.
Das sind nicht meine Kameraden, ich kenne sie nicht,
Und doch ist mein Mund vom Trunk noch tropfnaß.

Ich bin ein Same, hierher verweht
Aus einer fremden Welt.
Dies ist nicht mein Planet.
Doch hab ich einen Halm in die Sonne gestellt,
Und manchmal faßt ihn solcher Wonne Gewalt,
Als neigten sich durch einen Spalt
Seine wahren Brüder und Eltern vom Zelt.
Tau fällt.
Aber in einem alten Wald
Heiliges Wasser schallt, schellt.

Nun steh ich vor dem Gehöft der Nacht.
Der Wächter fragt: Was hast du tagsüber gemacht?
Ich habe mit meinen Küssen versengt,
Die mir am meisten Liebe geschenkt.
Der Wächter fragt: Was bringst du in der Hand?
Einer Lerche Asche, die sich am Herdfeuer verbrannt.
Der Wächter fragt: was weißt du zu berichten,
Undeutliche Gestalt?
Dies blieb mir von allen Geschichten und Gesichten:
Eine Sägemühle steht im Wald. 



Franz Werfel, geboren am September 1890 in Prag, Schriftsteller, Dramatiker und Lyriker, ging 1938 nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich ins Exil, zuerst nach Frankreich, dann in die USA. 1941 erhielt er die amerikanische Staastsbürgerschaft. Er starb am 26. August 1945 in Beverly Hills, Kalifornien.


Freitag, 23. August 2019

Walter Serner: Manschette 7 / 9 / 5


Am 23. August 1942 starb wahrscheinlich im Wald von Biķernieki bei Riga bei Massenerschießungen seitens der Nationalsozialisten auch der Dichter, Dadaist und Schriftsteller Walter Serner.

"Weltanschauungen sind Vokabelmischungen"


Manschette 7 (Romance)

Es ist nicht schwierig blond zu sein

Seit es in manchen Nächten
rote Ringe sprengt einher
ist jede Hoffnung auf den Sinn der Stunde
faul

Schau mir ins Auge
Krachmandel auf Halbmast
Cointreau triple sec mit Doppeltaxe

Jede Halswolke ein Fehlgriff
Jede Bauchfalte ein Vollbad
Jedes Hauptwort ein Rundreisebillett
Je te crache sur la téte
Schau mir ins Auge
A

Ist es so schwierig blond zu sein


Manschette 9 (Elegie)

Sprich deutlicher

Ein gelber Spazierstock rutscht mir quer durchs Haupt
Es ist in allen Kellern
heller als in meinem Darm

Sprich deutlicher

Ich höre gern den Hieb auf nackte Babyhintern
seit es dich entzückte
wenn ich davon wirbelte bloß
O warum sich nicht langsam streicheln
Stiefelknechte still verzückt begrüßen
jenseits jeder bürgerlichen Küche

o sprich deutlicher

Mach platzen deinen feisten Dreckhügel
ob deinem Bauch
durch ein gewaltiges metaphysisches Rülpsen


Manschette 5 (Epitaph postal)

Du hast die nassen Fetzen nie geliebt
Auf deinem Tische jede Semmel war ein Grund
Auf deiner Oberlippe schwang der letzte Rand
Du pfiffst Vokale aus wie stets an mir
An deinem Handgelenk hing alles heftig
Du warst Verstand
Du gabst mich auf

Aus: „Der Zeltweg“, Redaktion Flake/Serner/Tzara, Verlag Movement DADA, Zürich, November 1919

Am 10. August 1942 – Serner arbeitete inzwischen als Sprachenlehrer im Prager Ghetto – wurde er zuerst mit dem Transport Ba nach Theresienstadt, am 20. August 1942 mit dem Transport Bb nach Riga deportiert und dort – wahrscheinlich am 23. August 1942 – im Wald von Biķernieki zusammen mit seiner Frau Dorotea und allen anderen 998 Menschen dieses Transports ermordet.

Samstag, 10. August 2019

Emmy Hennings: Tänzerin / Ich bin so vielfach in den Nächten. . .




Tänzerin

Dir ist als ob ich schon gezeichnet wäre
Und auf der Totenliste stünde.
Es hält mich ab von mancher Sünde.
Wie langsam ich am Leben zehre.

Und ängstlich sind oft meine Schritte,
Mein Herz hat einen kranken Schlag
Und schwächer wird's mit jedem Tag.
Ein Todesengel steht in meines Zimmers Mitte.

Doch tanz ich bis zur Atemnot.
Bald werde ich im Grabe liegen
Und niemand wird sich an mich schmiegen.
Ach, küssen will ich bis zum Tod.

* * * 


Ich bin so vielfach in den Nächten.
Ich steige aus den dunklen Schächten.
Wie bunt entfaltet sich mein Anderssein.

So selbstverloren in dem Grunde,
Nachtwache ich, bin Traumesrunde
und Wunder aus dem Heiligenschrein.

Und öffnen sich mir alle Pforten,
bin ich nicht da, bin ich nicht dorten?
Bin ich entstiegen einem Märchenbuch?

Vielleicht geht ein Gedicht in ferne Weiten.
Vielleicht verwehen meine Vielfachheiten,
ein einsam flatternd, blasses Fahnentuch.

Emmy Hennings, geboren am 17. Januar 1885 in Flensburg; gestorben am 10. August 1948 in Sorengo bei Lugano, Dichterin, Heilige und Hure, unter anderem Mitbegründerin des legendären Cabaret Voltaire 1916 in Zürich. „Ich habe eine Aversion gegen den Dadaismus gehabt. Es waren mir zu viele Leute entzückt davon.“

„Niemals hat die Dichterin auf der Sonnenseite gelebt und es leicht gehabt, vielleicht hat sie es auch niemals ernstlich sich gewünscht. Sie lebt lieber unter den Kämpfenden, Armen, Bedrückten, sie liebt die Leidenden, sie fühlt für die Verfolgten und Rechtlosen. Sie bejaht das Leben auch in seiner Härte und Grausamkeit und liebt die Menschen bis in alle Verirrung und Not hinein.“

Hermann Hesse über Emmy Hennings