Dämmerung
Am Horizont verblasst das Abendrot,
Grau wird der letzte rosenfarb’ne Strich,
Nacht, Schlaf und Tod
Vermischen ihren Atem wunderlich.
Der Wind seufzt leise, und dann schweigt die Flur,
Unwirklich ist das Sein, sind ich und du,
Und allen Dingen bleibt nur die Kontur
… Seele, du wanderst fernen Tagen zu.
Du wanderst und du wanderst ohne Rast,
Bis sich der Schoß, der alle Pflanzen hält,
Dir öffnet, dir, der Erde flüchtigem Gast –
Dann wirst du selbst ein Teil der stummen Welt.
Du bist die Dryas, die im Dämmer nickt,
Der Bach, der durch den stillen Abend fließt,
Der Stein, der eine letzte Stätte schmückt,
Die Blume, die aus morschem Leibe sprießt.
Und tiefste Ahnung peinigt dich und droht,
Mit dunkeln Augen naht das Ewige sich
… Nacht, Schlaf und Tod
Vermischen ihren Atem wunderlich.
Thekla Mervin, aus: Neues Wiener Tagblatt, 15. Mai 1921
Thekla Merwin, österreichische Schriftstellerin, wurde am 25. April 1887 in Riga geboren.
1911 erschienen Merwins erste Publikationen, anfangs noch gezeichnet mit Thekla Merwin-Blech. Sie veröffentlichte Gedichte, Feuilletons, kurze Prosawerke und Dialoge in dutzenden Zeitschriften und Zeitungen, eine selbstständige Publikation kam jedoch nicht heraus. 1933 wurde sie Mitglied der Vereinigung sozialistischer Schriftsteller. Thekla und Magda Merwin wurden am 24. September 1942 in das KZ Theresienstadt deportiert. Mit dem Transport vom 19. Oktober 1944 wurden Mutter und Tochter ins KZ Auschwitz-Birkenau gebracht und am 20. Oktober 1944 in der Gaskammer des Krematoriums III ermordet.
Die Illustration ist von Charles Allen Winter (1869 - 1942)
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