Dienstag, 31. Oktober 2023

Egon Schiele: Ein ewiges Kind / Abendland

 



Ein ewiges Kind

Ich folgte stets den Gang
der brünstigen Leute
und wollte nicht in ihnen sein.
Ich sagte;  -  redete und redete nicht,
ich lauschte
und wollte sie stark oder stärker
hören und hineinsehen.
Ich ewiges Kind,
ich brachte Opfer anderen,
denen, die mich erbarmten,
denen, die weitweg waren
oder mich Sehenden nicht sahen.
Ich brachte Gaben, schickte Augen
und flimmernde Zitterluft
ihnen entgegen, ich streute ihnen
überwindbare Wege vor und,
- redete nicht.
Alsbald erkannten einige die Mimik
des Hineinsehers
und sie fragten dann nicht mehr.
Ich ewiges Kind,
verdammte alsbald das Geld und lachte
während ich es beweinend nahm,
das Hergebrachte, das Massenmuß,
das Körpertauschliche, das Zweckgeld.
Ich sah Silber wie Nickel,
Nickel wie Gold und Silber wie Nickel.

Egon Schiele, aus: Sämtliche Gedichte - Die andere Seite des Genies, Verlag Christian Brandstätter


Abendland

Ich habe Schaukelfelder durch winzige Zacken
zerschneiden gesehen
von Tausenden verlierenden Punkten auf Gelb,
Spiegelteiche und weiche Wolken.
Neigend bogen sich die Berge und hüllten Lüfte
aus Schleiern ein.

Ich roch die Sonne.
Jetzt ist der blaue Abend da,
sang und zeigte mir erst die Felder.
Einen blauen Berg umfloss noch roter Schein.
Ich war von all dem Vielduftigen umträumt.

Auch in: Die Aktion, 2. September 1916

Egon Schiele, geboren am 12. Juni 1890 in Tulln an der Donau, Österreich-Ungarn; gestorben am 31. Oktober 1918 in Wien, Maler des Expressionismus. Neben Gustav Klimt und Oskar Kokoschka zählt er zu den bedeutendsten bildenden Künstlern der Wiener Moderne.

Das Selbstportrait ist von ihm, 1912

Das Heft Nr. 22 der Reihe Versensporn ist ihm gewidmet (2016) 

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