Freitag, 20. Oktober 2023

Gerrit Engelke: Ein herbstlich Lied für Zweie

 



Ein herbstlich Lied für Zweie

Auch diesem Stieglitz da im Blätterfall,
Tickt wunderbar in seinem Federball
Ein schüchtern schluchzend Herz, ein kleines,
Ein Herz wie meins und deines.

Der Vogel singt, weil ihn sein Herz bezwingt
Und große Sonnenluft ihn frisch umschwingt –
Er muß von seinem Herzen zehren.

Und jedes Flüsterbäumchen, uns vertraut,
Trägt unter seiner weichen Rindenhaut
Ein horchend Neugierherz, ein wachsend kleines,
Ein Herz wie meins und deines.

Der Baum verzweigt, und weiter zweigt er still,
Weil frei sein Herz ins Blaue schauen will –
Er muss von seinem Herzen zehren.

Wer spürt, wie bald das nächtge Schweigen naht –
Du hast mich lieb und gehst denselben Pfad;
Wir leben zueinander warm und still,
Wie unser ruhlos, wunschgroß Herz es will.

Einmal ist Schauerstille um uns her,
Das Herz klopft aus, ist tot und leer –
Wir müssen all von unserm Herzen zehren.

Gerrit Engelke, aus: Rhythmus des neuen Europa – Gedichte, hrsg. aus dem Nachlass von Jakob Kneip, Jena (Diederichs) 1921.

Gerrit Engelke wurde am 21. Oktober 1890 in Hanover geboren. „Gewiß ist Engelke der Dichter des Maschinenzeitalters, doch unter dem Einfluß Whitmans erscheint bei ihm die Arbeitswelt in idealisierter Sicht. . . . Trotz aller Faszination teilte er freilich den unreflektierten Fortschrittsglauben seiner Zeit nicht.“ , heißt es über ihn im Buch „Ein deutscher Dichter bin ich einst gewesen - Vergessene und verkannte Autoren des 20. Jahrhunderts“ von Hans J. Schütz.

Am 13. Oktober 1918 fiel er an der Westfront, kurz nachdem er einem Freund geschrieben hatte, er wolle über das „vom Krieg befreite, wieder menschlich-brüderlich werdende Völkereuropa der Städte, der Arbeit, des Lebens“ schreiben.

Dass Engelke dem städtischen Leben jedoch auch kritisch gegenüber stand zeigt sein Gedicht „Ich will heraus aus dieser Stadt“, in dem es unter anderem heißt: „Bald hab ich diese Straßenwochen, / bald diesen Stadtbann aufgebrochen / und ziehe hin, wo Ströme durch die Ewig-Erde pochen, / ziehe selig in die Welt!“

Leider lässt sich nicht sagen, wohin sich der frühverstorbene Dichter entwickelt hätte. Doch eines lässt sich gewiss sagen: Er ist zu Unrecht dem Vergessen anheim gefallen.

Das Bild ist von Marianne von Werefkin, geboren am 10. September 1860 in Tula, Russisches Kaiserreich; gestorben am 6. Februar 1938 in Ascona, Schweiz), Malerin. Im Jahr 1907 entstanden ihre ersten expressionistischen Gemälde. Sie war Mitbegründerin der Neuen Künstlervereinigung München, der unter anderem auch Gabriele Münter, Wassily Kandinsky und Franz Marc angehörten, bevor sie den Blauen Reiter gründeten. 1814 musste sie als Russin in die Schweiz emigrieren. Dort beteiligte sie sich auch an den Aktionen des Cabaret Voltaire. 1918 zog sie nach Ascona, wo sie 1938 verstarb.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen