Mittwoch, 31. Mai 2023

Lili Grün: Notschrei einer allzu Braven / Mädchenhimmel; Alma Johanna Koenig: Trennung / Bahnfahrt am Abend

 



Notschrei einer allzu Braven


Ach, ich geh mir selber auf die Nerven,
Weil ich gar so artig bin,
Und voll unentwegter Pflichterfüllung
Steck ich stets in meiner Arbeit drin.

Niemals tu ich einen Schritt vom Wege,
Nicht einmal in meinen Träumen hintergeh
Meinen Mann ich, und die Leute sagen,
Dass man sowas nur begeisternd finden kann.

Doch dies ew´ge Schulterklopfen
Find´ ich unerträglich und gemein,
Und ich fleh zum blauen Sommerhimmel:
Herrgott, lass mich einmal anders sein!

Lass mich tolle Kapriolen schlagen,
Lass mich lasterhafte Dinge sagen,
Lass mit angeklebten Wimpern
Meine Äuglein herzlos klimpern,
Lass mich faul auf meinem Diwan liegen,
- Und in diesem Zeichen - Herrgott! -
Lass mich siegen!

Niemand kann sich selbst entrinnen,
Brav bleibt brav und schlimm bleibt schlimm -
Und die andern sind die Schlimmen -
- Wenn ich noch so neidisch bin!

Lili Grün, aus: Prager Montagsblatt 1935


Mädchenhimmel

Wenn ich auch nichts von den Dingen versteh´,
Eins weiß ich ganz genau:
Es gibt ein eigenes Paradies für die Frau.
Für uns, die wir den ganzen Tag dienen
In dunklen Büros bei den Schreibmaschinen.

Dort sind wir denn ganzen Tag ausgeschlafen,
Und schon zum Frühstück gibt’s Sahne und Kuchen,
Und da soll einer versuchen, uns was zu schaffen!
Na, ich danke, der hat nichts zu lachen!

Und in der ewigen Seligkeit
Bekommen wir täglich ein neues Kleid.
Und jeden Abend wird ausgegangen
In einem Kleid mit richtigem Dekolleté
In ein Theater oder Konzertcafé
Und statt der verfluchten Schreibmaschine
Bekommt jede von uns eine Limousine!

Dort ziehen wir mit einer Jazzbandkapelle mal ein,
Und die Frau vom Chef darf nicht hinein!
Au fein!

Lili Grün, aus der Zeitschrift Das Leben, Oktober 1930, auch in: Lili Grün - Mädchenhimmel! Gedichte und Geschichten, gesammelt, herausgegeben, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Anke Heimberg, AvivA Verlag, Berlin, 2014








Trennung

Jeden stillen Abend bet ich für dich,
sonst fänd ich nicht Schlaf noch Rast.
Mit gefalteten Händen nehm ich auf mich,
was vielleicht du gesündigt hast.

Jeden stillen Abend küss ich dein Bild,
- ich hab mich bescheiden gelernt -
dein Antlitz, das als mein Himmel mir gilt,
ist ganz von Küssen besternt.

Du schreibst mir: "- ich lieb dich, so wahr und so tief,
wie's jeden nur einmal trifft ..."
Es malt sich dein lieber, zerknitterter Brief
mir am Herzen in Spiegelschrift.

Aus: Alma Johanna Koenig Liebesgedichte, F. G. Speidel'sche Verlagsbuchhandlung Wien und Leipzig 1930


Bahnfahrt am Abend

Ich sehe die Schattenrisse
der Häuschen auf stiller Flur,
der Pappeln ungewisse,
windschwankende Kontur,

Rauchwolken aus nahen Schloten
bezeugen spätfeiernden Brand,
Gewitter, die lang schon drohten,
hängen tief überm Land.

Kirchtürme sind vor die Bläue
schwarzrandiger Wolken gestellt,
der Abend wird langsam durch scheue
aufglimmende Lichter erhellt.

Die Funkenbänder flattern
zischend an mir vorbei.
Ich höre der Räder Rattern,
ich höre des Dampfes Schrei,

Sturm in den wehenden Haaren,
das Antlitz von Tropfen kühl
ist dies nur mein Gefühl:
dies Dir-Entgegenfahren!

Aus: Alma Johanna Koenig Liebesgedichte, F. G. Speidel'sche Verlagsbuchhandlung Wien und Leipzig 1930

Lili Grün wurde am 3. Februar 1904 als Elisabeth Grün in Wien geboren. Nach dem Tod ihrer Eltern ging sie Ende der 1920er Jahre nach Berlin, wo sie 1931 zusammen mit Freundinnen und Freunden aus der Künstlerszene ein literarisch-politisches Kabarett eröffnete. Zurück in Wien verarbeitete sie ihre Berlin-Erlebnisse in ihrem Roman "Alles ist Jazz", der erstmals 1933 unter dem Titel "Herz über Bord" im Paul Zsolnay Verlag erschienen ist. Mit der nationalsozialistischen Okkupation Österreichs im März 1938 hatte Lili Grün als jüdische Schriftstellerin schlagartig keine Möglichkeit mehr zu publizieren. Verarmt und lungenkrank blieb ihr die Emigration ins rettende Ausland verwehrt. 1942 wurde sie aus Wien deportiert und am 1. Juni 1942 mit anderen Opfern, darunter die Dichterin Alma Johanna Koenig, im weißrussischen Vernichtungslager Maly Trostinec ermordet.

Das Portrait von ihr ist aus Der Wiener Tag, 5. 4. 1933


Alma Johanna Koenig, geboren am 18. August 1887 in Prag; ermordet am 1. Juni 1942 im Vernichtungslager Maly Trostinez (bei Minsk), Lyrikerin und Erzählerin.

Das Foto zeigt die Dichterin um 1927

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen