Samstag, 6. Mai 2023

Otto Abeles: Flüchtlinge

 



Flüchtlinge

Vieltausend Blicke greifen nach euch,
Ist keiner von trostreicher Liebe feucht.

Lästersucht, Dünkelmut, Unverstand
Strecken geschäftig nach euch die Hand,

Zerren euch, meistern euch, horchen euch aus,
Stehlen sich schamlos in euer Haus,

Spüren und spüren – da gellt schon ihr Schrei:
„Hier ist das Wild gestellt, Jäger herbei!“

Wer stürzt dort hervor aus gesprengtem Gelaß?
Das ist der uralte, lefzende Haß.

Wer schützt euch mit mürrischem Angesicht?
Die kalte, befohlene Mitbürgerpflicht.

Oh, wäre mein Arm wie der Himmel so weit,
Ich zöge an mich euer stummes Leid.

Oh, wäre mein Herz wie der Frühling so reich,
Ich bettete euch auf Blüten weich.

Ich hüllte euch, Mütter, in laue Nacht,
Daß ihr ungesehn weint und euch keiner verlacht.

Otto Abeles, geboren am 1. Mai 1879 in Rohaletz bei Nikolsburg, gestorben am 25. Mai 1945, Journalist, Schriftsteller und Musikkritiker. Er übersiedelte Anfang September 1934 in die Niederlande und wurde eines der eifrigsten und mutigsten Mitglieder der Amsterdamer jüdischen Gemeinde, er war auch Direktor des niederländischen Zweiges des Keren Hajessod. Nach dem Einmarsch der Deutschen Truppen während des Zweiten Weltkriegs wurde auch Abeles gefangen genommen und im Durchgangslager Westerbork interniert. Im Mai 1944 wurde er weiter ins KZ Bergen-Belsen deportiert. Er starb etwas mehr als einen Monat nach seiner Befreiung aus dem KZ an einer Flecktyphusinfektion.

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