Wilhelm Bölsche (1861 - 1939) war Schriftsteller und Herausgeber. Er arbeitete unter anderem für den Kosmos-Verlag und gilt als der Schöpfer des modernen Sachbuches. Auch initiierte der Freidenker die erste Volkshochschule. Sein Text "Die Poesie der Großstadt" entstand 1890, und er klingt für mich immer noch überraschend modern.
Die Poesie der Großstadt.
Die moderne Großstadt ist bar aller
Poesie, – wie oft das schon ausgesprochen worden ist! Man durchblättere die
nachgelassenen Briefwechsel von Dichtern, die gezwungen waren, ihren
Lebensabend im emporwachsenden Berlin, dem Berlin, das Großstadt vor ihren
Augen wurde, zuzubringen. Klagen, nichts als Klagen! Das Ende aller Poesie ist
dieses grauenvolle Häusermeer. Wer nicht die Mittel hat, wenigstens ein Drittel
des Jahres fern von dieser kalten Welt in irgend einem Waldwinkel oder Seebade
sich aufzuhalten, dem versiegt alsbald der heilige Quell, sein Herz wird leer
und roh wie diese Steinkolosse, diese ungeheueren, schwirrenden Geschäftsräder,
er geht unter an Leib und Seele.
Ich bin aus der Provinz nach Berlin
gekommen, und was ich so oft gelesen hatte, habe ich geglaubt. Ich habe mir
unter ein paar Jahren berliner Leben etwas vorgestellt wie eine bittere Kur,
die man der Not gehorchend, schon einmal als moderner Mensch auf sich nehmen
müsse zur Stählung des Geistes; die Poesie, so dachte ich, müsse fein
säuberlich im untersten Gefache meines Koffers eingepackt liegen und liegen
bleiben, bis diese schlimme Zeit der zwangsweisen Nordpolfahrt überstanden sei,
später, bei Waldgrün und Bachesrauschen sollte sie schon wieder eine fröhliche
Auferstehung feiern. Jahre sind vergangen und ich habe Berlin lieb gewonnen,
nicht, wie so mancher, weil ich hier in hervorragendem Maße mein materielles
Glück gemacht hätte, sondern als Poet. Wenn ich jetzt die Stadt durchwandere,
vom Zentrum mit seinem wilden Strudel bis hinaus zur stillen Vorstadt, wo Welt
und Welt, Dorf und Großstadt, Häusermeer und wogende Saatfläche sich berühren,
so habe ich in mir nur ein Gefühl, das Gefühl der Ohnmacht gegenüber dieser
Fülle des poetischen Stimmungsgehaltes, dieser Ueberfülle, die fast erdrückt,
die in ihrer Größe nur einem gleicht, nämlich der Riesenstadt selbst. Ich habe
mich sagen müssen: woher kommt dieser Gegensatz, wo liegt der Grund für jenes
schiefe, voreilige Urteil, das so oft aus so gewichtigem Munde erklingt?
Mancherlei Ursachen treten hier zu
gemeinsamer Wirkung zusammen.
Zunächst wird in einer ganz
unberechtigten Weise die nervöse Überreizung, die das großstädtische Treiben
bei jedem, der im „Kampf ums Dasein“ steht, notwendig hervorruft, mit dem
poetischen Stimmungsgehalte, der sich dem unparteiischen Beobachter aufdrängt,
verwechselt. Das ist ja wahr: das berliner Leben macht nervös, sobald man
selbst ein Stück Berlin wird, selbst mit in den Wettbewerb eintritt. Der
moderne Dichter, der nicht mit Fortunas Beutel geboren wird, muß ja nun auch um
sein Leben ringen. Alljährlich drängen sich ganze Scharen von jungen,
künstlerisch begabten Menschen nach der Hauptstadt. Zu Hause haben sie lyrische
Gedichte geschmiedet, von Sinnen und Minnen geschwärmt. In Berlin packt sie das
große Rad der Lohnarbeit für den Tag. Sie müssen Feuilletons schreiben, um zu
leben, sie müssen die Luft der Zeitungsdruckerei atmen, in ihren Mußestunden
ist ihre Beschäftigung das nervöse, unendlich wertlose Streiten mit Genossen am
Biertisch oder im Kaffe. Von Berlin sehen die jungen Leute eigentlich nichts,
sie sehen bloß das Stückchen Facharbeit. Nun will der eine oder andere aber
doch Romane schreiben. Es entsteht die unglückliche Spezies des neueren
berliner Romans. Da ist alles mit dem roten Feuerschein krankhafter Nervosität
beleuchtet. Die Stadt erscheint halb als eine Hölle, halb als ein Ort der
grauen Langeweile. Alles ist Tendenz, die Menschen Karikaturen, die Handlung im
besten Falle eine peinliche Kriminalgeschichte. Von den echten Stimmungen, die
studiert sein wollen und zwar von ganz gesunden Augen, von der echten
realistischen Erklärung aus den Verhältnissen, ja selbst nur von irgendwelchen
charakteristischen, der Großstadt eigentümlichen Situationen ist da kaum die
Rede. Es ist klar, daß der gesunde Leser sich von solchen Büchern mit einigem
Schrecken zurückzieht und den Mangel an Poesie, den er in diesen nervösen
Stadtprodukten allerdings findet, auf die Stadt als Objekt überträgt. Man wird
mir einwenden, es gäbe auch wohlhabende Poeten in Berlin, solche, die nicht in
der Tretmühle säßen, die ihr wohlverdientes Auskommen hätten. Diese aber zögen
sich mit Abscheu vor der Großstadt als dichterischem Gegenstande zurück. Leider
könnte man hier bestätigend gute Namen nennen. Wie Berlin seine jungen Dichter
hat, die nichts kennen als Redaktionsstube, Bierlokal und Kaffe, deren Lektüre
die Fachzeitung, deren weibliches Ideal die Kellnerin und deren Weltanschauung
trotz des angeblichen Realismus die trockenste Bücherweisheit ist, so hat es
seine hochehrwürdigen älteren Herrn vom Pegasus, die absolut niemals irgendetwas
von ihrer eigenen Hauptstadt gesehen haben als C und W, Centrum und Westen, die
eleganten Viertel, und auch die nur in den eleganten Straßen und Häusern. Wenn
man bei solchen Leuten Entdeckungsfahrten in entlegeneren Winkeln der Stadt
erzählt, so hat es den Anschein, als ob man von Innerafrika oder Südamerika
spräche, so groß ist das Interesse, so groß ist aber auch die Unkenntnis beim
Zuhörer. Und doch schreibt man auch in diesen Kreisen berliner Romane. Selbst
ein Mann wie Spielhagen ist hier nicht auszuschließen. Man nehme einen Roman
wie seinen "Neuen Pharao". Hier ist die Lektüre der Tagesblätter
ebenso bemerkbar, wie die Kenntnis der feinen und halbfeinen Salons in Berlin
W.; von Kenntnis der Stadt und ihres echten Stimmungsgehaltes keine Spur, ja
überhaupt kein Anlauf, nach dieser Seite etwas zu bieten; einiges, was nicht zu
umgehen war, ist erfunden – und das ist falsch; anderes ist nicht gekannt. Der
Leser muß notwendig auch hier ein Gefühl unsäglicher Farblosigkeit bekommen,
und hier wird er in erhöhtem Maße die Schuld der Stadt beimessen, denn er weiß
vielleicht von früher her, daß Spielhagen (um bei dem Beispiel zu bleiben) da,
wo er zu Hause ist, etwa am Seestrande, immer ein Meister des Lokalkolorits gewesen
ist.
Das sind nun ein paar Gründe mehr
äußerlicher Art. Es gibt aber auch solche von weit mehr innerlicher Natur. Man
redet heute mit besonderer Vorliebe von den Gegensätzen zwischen Realismus und
Romantik. Das spielt auch in dieses Kapitel der Großstadt-Poesie hinein, man
muß die Dinge nur richtig fassen. Romantik ist ein böses Wort, fast so arg wie
das allerdings noch etwas schlimmere Unglückswort Idealismus. Wenn man Romantik
allgemein faßt als das lyrische Element der Dichtung, so ist es gar nicht in
Gegensatz zu einem irgendwie vernünftigen Realismus zu bringen, denn eine Ästhetik,
die uns die Lyrik streichen wollte, wäre vollkommener Wahnsinn. Fassen wir den
Begriff aber enger! Nehmen wir etwa Eichendorff. Man beachte, wie eng hier das
Stoffgebiet der Lyrik geworden ist. Träumereien, Weltflucht, ewige Sehnsucht
nach dem Alten, Verlorenen: Waldesstille, Glockengeläut, bemooste Ruinen. Wer
will leugnen, daß auch diese spezielle Art der Romantik herrliches geleistet
hat. Das Instrument ist aber klein, man kann es nicht überall gebrauchen. Vor
allen Dingen ist die Gegenwart nicht dafür gemacht. Die Poesie der Großstadt
kann man nicht fassen mit Eichendorff's Augen. Mitten im Geklingel der
Pferdebahnen, dem Geschmetter der Militärmusik, dem unablässigen Klappern der
Balken an hundert aufwachsenden Häuserkolossen in dieser ganzen Gigantomachie
des hellen Zeitentages kann man nicht wohl das Waldhorn blasen, ohne sich
lächerlich zu machen, und ein Narr sucht hier nach dem "Mühlenrad im
stillen Grunde".
Es liegt Humor darin und vorläufig
noch ein echtes Stimmungselement, wenn in all' den Spektakel der Weltstraße
hinein auf einmal ein Orgeldreher seine Weise ertönen läßt, aber das ist eben
etwas anderes. Das gehört zu den großen Kontrasten der Stadt selbst, ja, man
könnte an diesem armen Orgeldreher ein ganzes Stück Berliner Geschichte
aufzeigen, den ganzen Übergang von der gemütlichen Philisterstadt zur kalten
Großstadt, wie er sich ausspricht in der verschiedenen Stellung der
Hausbewohner grade zu diesem Mann: hier noch heller Jubel aller Kinder und
weiblichen Bewohner des Hauses, wenn der Alte mit seinem quiekenden Instrument
in den kleinen, schmutzigen Hof tritt, dort der strenge Zettel über dem
Portierfensterchen der eleganten Mietskaserne: "Musizieren verboten."
Also so etwas gehört nicht hierher. Tatsächlich werden diese Dinge unausgesetzt
verkannt. Es leben uns genug junge Lyriker, die von der Großstadt singen
wollen, auf dem Tische des Kritikers häuft sich um Weihnachten ein kleiner
Eiffelturm von Proben an. Und was singen diese angenehmen Jünglinge uns? In
melancholischen Versen wird die allerdings nicht anzuzweifelnde Tatsache
ausgesprochen und rührselig bedauert, daß unter den Linden keine tausendjährige
Eichen mit altgermanischen Opferaltären in ihrem Schatten wachsen, daß die
Spree kein krystallklarer Bergquell ist und die Häuser der Friedrichstraße nicht
idyllische Schäferhäuschen mit jenen berühmten patriarchalischen Sitten der
Bewohner, wie sie nirgendwo vorkommen, sind. Wenn ich diese Form der Romantik
verwerfe, so leugne ich damit nicht im Entferntesten das echte melancholische
Element, das der wahren Großstadt-Poesie allerdings in hohem Maße innewohnt. Es
entspringt aus Kontrasten, trägt aber nicht künstliche hinein. Eine Überfülle
tragischer Motive im eigentlichen Sinne umschließt dieses Häusermeer. Wo immer
man es als ein Ganzes zu sehen bekommt, überwiegt schon im rein
Landschaftlichen der ernste, düstere Eindruck, der dann leicht assoziativ,
durch Reflexion, zu verstärken ist. Ein Sonnenuntergang über den rauchenden
Schloten der Weltstadt hat etwas dämonisches, er gleicht einem ungeheuren Brande,
mehr Qualm als Licht und das Licht tief abgedämpft zu fahlem Dunkelrot. Und
selbst ein gesunder Rest echter Naturromantik fehlt nicht, wenn er auch in
keiner Weise dominierend hervortritt. Es liegt ein schwermütig süßer Reiz in
dem Baum, der aus dem widerlichen Kerker jener zimmerartig engen berliner Höfe
seine schwachbelaubten Äste wie hilfesuchend nach reiner Luft emporreckt, in
der Vorstadt-Lerche, die ihr Nest noch auf einem zwischen Häuserkolossen
zufällig, in Folge irgend einer selbst wieder tragischen mißlungenen
Bauspekulation übrig gebliebenen Restchen Ackerland baut, die in der Frühe ihr
Lied hinaustrillert und doch kaum viel höher kommt mit ihren guten kleinen
Schwingen als die Mietskasernen ringsum hoch sind. Wer sucht, findet solche
Motive zahlreich. Man darf sich aber selbst hier nicht zur Einseitigkeit
verführen lassen. Neben dem melancholischen Stimmungselemente steht gewaltig
und hinreißend das Motiv der Größe, der Erhabenheit, der überwältigenden
Herrlichkeit. Die Großstadt ist ja doch in eminentem Sinne auch die Großtat der
menschlichen Kultur auf ihrer gegenwärtigen Entwickelungsstufe. Allerdings
gerät man bei diesem Punkte sogleich wieder auf eine neue Streitfrage der
Poeten, der künstlerisch schauenden Menschen überhaupt. Die Großstadt hat grade
in ihrer erfreulichen fortschreitenden Seite ihren eigenen Stil, und es fragt
sich, ob das Künstlerauge sich darauf einläßt, denselben zu studieren, sich ihm
anzupassen, oder ob es ihn in Stücke zerschneidet und die Stücke einseitig und
schablonenhaft nach älteren Mustern beurteilt. Im letzteren Falle bleibt grade
bei unserer neuesten und im sichtbarsten Emporgang begriffenen Weltstadt,
Berlin, verzweifelt wenig "Schönheit" übrig. Ich bin wiederholt mit
Bekannten (Poeten, Architekten und anderen) durch Berlin gepilgert. Im Ganzen
fanden sie Berlin schauderhaft. Gnade fanden kleine Ecken, die Kirchen am
Gendarmenmarkt: da fanden sie etwas von Rom; die Museumsinsel: da herrschte
klassischer Geist; dieses oder jenes Denkmal. Den Rathausbau nannte einer
völlig verfehlt, aus allerlei formalen Detailgründen; der Rest unermeßlich
nüchtern; grauenvoll vor allem vom künstlerischen Standpunkt die riesigen
Eisenhallen der Bahnhöfe, grauenvoll die Häuserinseln, die endlosen
Riesenstraßen der Vorstädte. Man nannte mir Paris, man nannte mir Rom. Das
waren Großstädte, die man sich gefallen lassen konnte. Man sagte das im guten
Glauben, man hatte es gelesen und das Auge darauf geschult, jede korinthische
oder jonische Säule mehr war ein Schönheitsbeweis, jede dampfumwallte eiserne
Bahnhofshalle ein Monstrum mehr. Dem Gesamtpanorama von Berlin fehlte es
vollends an jedem klassischen Linienschwunge, es war einfach abscheulich, ohne
Größe, ohne Stil. Ich persönlich kenne Rom oberflächlich und Paris ziemlich
genau aus eigener Anschauung. Ich weiß sehr wohl, daß ein Blick auf das
Panorama von Berlin vom Kreuzberg oder auf die Silhouette etwa vom
Central-Viehhof her nicht zu vergleichen ist mit dem Anblick der Peterskirche
vom Pincio oder dem goldschimmernden Koloß der Lutetia, wie ihn die Terrasse
von Meudon zeigt. Falsch, grundfalsch ist nur der angelegte Maßstab. Wer
festklebt an der Schablone bestimmter klassischer Formen, wer sich übertäuben
läßt durch die wohlgefälligen Linien einer Säulenreihe, durch den pomphaften Lichtreflex
auf einer Goldkuppel, wer mit einem Worte ganz und immerzu nur das Alte
vertritt, der Ästhetik kein Recht der Fortentwickelung zugesteht, der ist
allerdings ewig verloren für den Zauber moderner Großstadt-Poesie. Niemand wird
den Reiz leugnen, den auch auf uns heute, die Kinder moderner Zeit, ein antiker
Tempelbau ausübt wie die Berliner Nationalgallerie. Dennoch liegt nicht hier
der Schwerpunkt des Charakteristischen für die Großstadt. Die gigantische
Panzerschale der Bahnhofshalle am Alexanderplatz wäre hier viel eher zu nennen.
Herausgerissen aus dem Ganzen wäre sie häßlich, häßlich wären die himmelhohen
Neubauten, die endlosen Straßen, ganz hervorragend häßlich wären die Stangen
der elektrischen Lampen an der Leipziger Straße, das krause Notennetz der
unzähligen, die Giebel allenthalben überkletternden, die Straßen
überbrückenden, fast schon den blauen Himmel in ein liniiertes Blatt
verwandelnden Telegraphendrähte. Als Glied des Ganzen, ja als Machtglied, als
Ausdruck des Kulturheraufgangs finde ich das alles groß, erhaben, schön. Der
Begriff der Erhabenheit ist längst als ein ästhetisch zulässiger anerkannt.
Auch das Assoziative, dem Gedanken an den idealen Gehalt und Zweck
Entspringende, ist seit Fechner in der vernünftigeren Ästhetik als Faktor der
Schönheitswirkung anerkannt. Es gibt kein Argument dagegen, daß die
Schönheitsempfindung des Menschen bildungsfähig ist, daß sie sich tatsächlich
bei freier Entwickelung im unbefangenen modernen Menschen schon nach der
angedeuteten Seite hin wesentlich umgebildet, herangebildet, zum Zuge der Zeit
heraufgebildet hat. Das ist ein unendlich wichtiger Gesichtspunkt für den Wert
oder Unwert der Großstadt in der poetischen Betrachtung. Man soll nicht
zerpflücken zu Gunsten eines Prinzips, man soll sich vertiefen, soll lernen.
Mag der Rathausbau seine Schwächen im Detail haben; man soll ihn als
wesentlichen, typischen Bestandteil des Ganzen fassen, da ist er ein erhabenes,
ein schönes Glied. Im letzten Grunde ist das Symbolische selbst in der
klassischen Kunst, in der älteren Kunst überhaupt unverhältnismäßig
beherrschender gewesen, als man gewöhnlich zugibt. Im Symbolischen aber fällt
das Vereinzelte, das direkt und an sich formal Wirksame ganz von selbst fort
vor der Forderung der Allgemeinheit. Das weiter auszuführen, hieße ein Kapitel
zur neueren Kunstgeschichte schreiben. Aber anzudeuten war die Sache auch für
unsern Zweck.
Zur Großstadt gehört auch der
Großstadt-Mensch. Poetische Stimmungsbilder aus der berliner Welt müßten uns
vor allen Dingen auch den Berliner zeigen, das Kind des Übergangs von der
kleinen Spreestadt zur ungeheuren Reichs- und Weltstadt. Seltsam: der Berliner
selbst ist ein schlechter Beobachter. Er hat Sinn dafür, sich selbst zu karikieren,
aber nicht einmal in gutmütiger Art. In unsern "Berliner Romanen"
(abgesehen davon, daß die wenigsten von den echten Berlinern herstammen) sind
kaum die schwächsten Anläufe gemacht, den Berliner richtig zu schildern. Man
wird an die Stindeschen Buchholz-Geschichten erinnern. Nun, da sind einzelne gute
Züge, aber es ist das Unglück dieser Sachen, daß der Autor nicht bloß
Beobachter geblieben ist, daß er auch Vollblut-Dichter werden wollte, dazu aber
hatte er nicht das Zeug. So mischen sich in diesen Büchern, die überdies durch
forcierte Massenproduktion rasch bergab gegangen sind, in die trefflichsten
Detailstudien nach dem Leben die groben Späße internationaler Situationskomik;
und vollends die Anläufe zur Vertiefung in's Ernste, die Versuche
großstädtischen Hintergrund wirklich in entsprechender Größe zu malen,
bedeuteten den vollkommenen Bankerott des dichterischen Vermögens. Nichts
erscheint auf den ersten Blick so leicht und nichts ist tatsächlich so schwer,
wie die Bewältigung dieser Großstadt-Stoffe mit dem Mittel der scherzenden oder
auch der scharfen Satire. Nein, schildern soll man diese Dinge vor allem, treu schildern. Das Tragische und das Komische
darin kommen dann von selbst stark genug an's Licht. Man darf sich auch durch
die Lust am Heiteren nicht darüber hinwegtäuschen, daß, je tiefer man die
Menschen einer solchen Übergangszeit zwischen Kleinstadt und Großstadt
studiert, der Schatten viel mehr werden als der Lichtpunkte. Frau Buchholz
kommt sehr ähnlich massenhaft in Berlin vor, das ist sicher; aber das Komische
ihrer Halbbildung wird anderswo zur Tragödie, die Kontraste, die in der Laune
des Künstlers belustigende Schattenbildchen an die Wand zaubern, liegen in der
Wahrheit zentnerschwer auf den Menschen. Damit soll aber nun der anderen
Spezies unseres neueren Berliner Romans, der in schwärzestem Gewande einher wandelnden
Ehebruchsgeschichte aus Berlin W, wie sie etwa Paul Lindau geliefert hat, erst
recht nicht das Wort geredet sein. Die feine französische Technik kann hier
ebenso wenig darüber hinwegtäuschen, daß von typischen berliner Verhältnissen
kaum ein winziger Schatten vorhanden, und das Internationalste was sich nur
entdecken läßt, der Spannung wegen in die Mitte geschoben ist.
Einen letzten Punkt will ich noch
kurz streifen. Man könnte ihn das historische Motiv in dem dichterisch
aufgefaßten Stimmungsbilde der Großstadt nennen. Es ist bei anderen Weltstädten
– ich erinnere bloß an Paris – sehr viel stärker als bei Berlin. Wer mit
einigem Wissen ausgerüstet durch die Straßen der Seinestadt wandelt, der sieht
an allen Ecken und Enden mitten im Strudel der Gegenwart die Vergangenheit, er
sieht Jahrhunderte, die über den Platz, auf dem er steht, hinweggeschritten
sind. Diese "Gespenster" reden mit, sie arbeiten hinein in die
Stimmung, sie beeinflussen den Dichter, er mag wollen oder nicht. Wer den Platz
anschaut, wo das Haupt des sechzehnten Ludwig gefallen ist, wer die Stimmung
des Ortes fassen will, der mag sich stellen wie er will: mitten in das
brausende Treiben der Menschen, das Rollen der Droschken, das Poltern des
Omnibus mischt sich ihm der alte Klang, das alte Bild. Ich glaube, man soll
sich diesem Motiv, wenn man ihm auch nicht entgehen kann, nicht zu einseitig
hingeben, und Berlin ist in dieser Hinsicht ein günstigeres Beobachtungsfeld
als ein so alter Kultursitz wie Paris. Was man selbst aus Berlin an solchen
historischen Stimmungen herauslesen kann, wenn man den Schwerpunkt bewußt und
in berechtigtem Sonderzweck hierher verlegt, das zeigen die Berliner Bilder von
Julius Rodenberg, kleine Kabinettstücke, die jeder Poet als Vorstudien von sehr
hohem Werte begrüßen muß und die vielfach sogar durch die Form wirklichen
poetischen Wert erhalten.
Das ist einiges von dem, was sich
dem Satze entgegenstellen ließe: Die Großstadt ist bar aller Poesie. In dieser
allgemeinen Fassung lassen sich die Dinge nur andeuten, nicht eigentlich
beweisen. Das Letztere bleib' Sache der Detailstudie. Das derbe Rad der Welt
kreist rascher, als daß die ästhetische Betrachtung immer gleich nachkommen
könnte. So wächst uns die Großstadt jäh über den Kopf, plötzlich steht sie vor
uns als Riesengemälde, als Riesenepos der Wirklichkeit und fordert Einlaß in
die kühlen Hallen der Systematik. Kein Wunder, daß das Wirrsal ein großes ist.
Aber das empfängliche Gemüt des Menschen wird schon nachkommen. Als der Ideenkreis
des Christentums an einem Pfingstmorgen der Weltgeschichte in die staunende
Menschheit eintrat, schien die Stunde der Kunst geschlagen zu haben. Heute
scheint es dem Besucher der Museen, daß an jenem Morgen der triebkräftigste
Schößling der Kunst gesäet worden sei. So wechselt die Meinung vor dem Erfolg.
Und sie wird auch wechseln vor der Tatsache einer Befruchtung der Kunst durch
die Großstadt, durch diese Großstadt, die das Licht des Morgenrotes scheinbar
schwärzt durch ihren Rauchatem, die für die trillernde Lerche keinen Himmel
mehr hat und von dem Dichter fordert, er solle ein Mensch sein, wie alle,
Nerven haben von Stahl und die Sonne nur zwischen Telegraphendrähten sehen.
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