Verlorenes Paradies
I
Einmal deuteten unsere Prisma-Augen den Regenbogen.
Offenbarten Gott, der über Bergeskurven ging im Abendfrieden.
Sahen die Engel in den tiefen Tälern leuchten.
Wir verstanden das Murmeln der Geister in den Goldquellen
Und erwiderten die Schneeflockensprache, die aus der Höhe sank.
Wir lugten hell durch die sieben Schleier der Himmel,
Unsere Zärtlichkeit belauschte die keimende Saat,
Blütenverliebt fiel von unseren Lippen das Lob des Schöpfers
Im Namen aller Wälder. . .
Der Morgen sang im Lied der Lerche,
Die frühe Stunde brachte der Sonne den Dank,
Noch im Sinken waren wir lächelnde Osterkinder.
II
Alle lebenden Wesen trugen die süße Bürgschaft der Verkündigung.
Das Tier war unser freundlich Geschwister, demütig und lieb.
O Spielen in den Schlehdornhecken mit Zaunkönig und Schäfchen!
Das Lamm war Kind und neigte schüchtern den Kopf,
Wenn wir vorübergehend grüßten:
„O du weißes Bekenntnis der Menschheit!“
Dann lächelten die braunen Pferde so treu verträumt,
Und in ihren warmen Augen winkte weiches Wünschen.
Da beschützten wir die zarte Hingebung aller Wesen.
Der Mensch, ein Hirtenlied, sang der Sanftmut süße Macht.
Die Welt war Gottes Gruß und Weide.
Des Schlafes grüner Abhang Thron und Traum der ruhenden Natur.
III
Im Nachtschatten aber wuchs der Baum der Erkenntnis.
Kein Tag lieh Licht seiner Irrwischschönheit.
Zwielicht war ihm gegeben zur Versuchung.
Der heimliche Baum, in düsterer Pracht, lockte zweifelumwoben:
„Ihr werdet sein wie Gott.“
Da bezauberten schon die Früchte, lügenrot, ein lohend giftig Züngeln,
Und in verschwiegener Dämmerung ging lüstern das Bedenken durch die Welt.
Da fiel der Sinn, mit ihm versank der Garten Eden.
IV
Jetzt hast du, Menschenkind, dein Glück versagt.
O Suchersehnsucht, warum hast du „Warum“ gefragt.
Die Sonnen grübeln nicht „Woher, wohin?“
Wir tiefen Gräber suchen überall und immer Sinn.
Wir rechnen Tage, und vermessen uns,
Wir sagen Sage und versagen uns.
Wir suchen Wahrheit und versuchen uns.
Wir sind Gedicht und siebenfacher Wahn,
Wir hohen Sternendeuter unsrer Sternenbahn.
Emmy Hennings, aus: Helle Nacht, Gedichte, verlegt bei Erich Reiss, Berlin 1922
Emmy Hennings, geboren am 17. Januar 1885 in Flensburg; gestorben am 10. August 1948 in Sorengo bei Lugano, Dichterin, unter anderem Mitbegründerin des legendären Cabaret Voltaire 1916 in Zürich.
„Niemals hat die Dichterin auf der Sonnenseite gelebt und es leicht gehabt, vielleicht hat sie es auch niemals ernstlich sich gewünscht. Sie lebt lieber unter den Kämpfenden, Armen, Bedrückten, sie liebt die Leidenden, sie fühlt für die Verfolgten und Rechtlosen. Sie bejaht das Leben auch in seiner Härte und Grausamkeit und liebt die Menschen bis in alle Verirrung und Not hinein.“ Hermann Hesse über Emmy Hennings
Das Bild „Das Paradies“ ist von Augusto Giacometti (1877 - 1947)
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