Mittwoch, 20. November 2024

Paula Modersohn-Becker: Der Abend leget warme. . . / An die Mutter

 




Der Abend leget warme
hernieder seine Arme
und wo die Erde zu Erde
da ruhen seine Hände. . .
Die Mücklein summen leise
in ihrer hellen Weise
und alle Wesen beben
und singen leis vom Leben. . .
Es ist nicht groß, es ist nicht breit,
s´ ist eine kleine Spanne Zeit
und lange währt die Ewigkeit. . .


An die Mutter

. . . Doch nun zu dir, einzige Mutter.
Ich bin mit meinen Gedanken so oft bei dir.
Ich lerne dich mehr und mehr verstehen.
Ich ahne dich.
Wenn meine Gedanken bei dir sind,
dann ist es, als ob mein kleiner,
unruhiger Mensch sich an etwas Festem,
Unerschütterlichem festhält.
Das Schönste aber ist, daß diese Feste,
Unerschütterliche so ein großes Herz hat.
Laß dir danken, liebe Mutter,
daß Du Dich so uns erhalten hast.
Laß dich ganz ruhig und lange umarmen.

Aus: Modersohn-Becker, Briefe. Berlin, den 1. November 1897

Paula Modersohn-Becker, geborene Minna Hermine Paula Becker, geboren am 8. Februar 1876 in Dresden-Friedrichstadt; gestorben am 20. November 1907 in Worpswede, Malerin und eine der bedeutendsten Vertreterinnen des frühen Expressionismus. In den knapp 14 Jahren, in denen sie künstlerisch tätig war, schuf sie 750 Gemälde, etwa 1000 Zeichnungen und 13 Radierungen, die kennzeichnende Aspekte der Kunst des frühen 20. Jahrhunderts in sich vereinen. (Wiki)



Das Foto zeigt die Malerin auf ihrer Veranda in Worpswede 1901, das Bild ist von ihr.

Montag, 11. November 2024

Hannah Szenes: Wir pflücken Blumen

 



Wir pflücken Blumen (1944)

Wir pflückten Blumen in den Feldern und auf den Bergen,
Wir atmeten den frischen Frühlingswind,
Die Sonne durchdrang uns mit ihren warmen Strahlen
in unserer Heimat, in unserem geliebten Land.

Wir gehen zu unseren Brüdern ins Exil,
zu den Leiden des Winters, zum Frost in der Nacht.
Unsere Herzen werden vom Frühling erzählen,
unsere Lippen singen das Lied des Lichts.

Hannah Szenes, geboren als Anikó Szenes am 17. Juli 1921 in Budapest; gestorben am 7. November 1944 ebenda, ungarische Widerstandskämpferin, die mit anderen jüdischen Frauen und Männern mit dem Fallschirm hinter der deutschen Front absprang, um zu versuchen, Juden zu retten. AlsTochter des Journalisten und Kinderbuchautors Béla Szenes demonstrierte ihr eigenes literarisches Talent von klein auf und schrieb seit ihrem dreizehnten Lebensjahr bis kurz vor ihrem Tod an ihrem Tagebuch.

Am 13. Mai 1944, auf dem Höhepunkt der Deportation der ungarischen Juden, überquerte Szenes die Grenze nach Ungarn. Sie wurde bereits am nächsten Tag aufgrund einer Denunziation von der ungarischen Polizei verhaftet. Aus der Akte der damaligen ungarischen Regierung geht hervor, dass sie schwerer Folter unterworfen wurde, den Code der geheimen Funkverbindung aber nicht preisgab. Sie lehnte auch dann jede Kooperation ab, als die ungarische Polizei ihre Mutter in die Zelle brachte und drohte, sie ebenfalls zu foltern.

In ihrem Prozess im Oktober 1944 verteidigte Hannah Szenes ihre Aktivitäten und verweigerte eine Entschuldigung. Als sie am 7. November 1944 durch eine Erschießung hingerichtet wurde, lehnte sie eine Augenbinde ab, um dem Exekutionskommando in die Augen blicken zu können.

Nach ihrem Tod wurden ihre literarischen Arbeiten entdeckt. Ihr Tagebuch und die anderen Schriften wurden veröffentlicht, viele ihrer Gedichte wurden bald berühmt, da sie eine selbst in schlimmen Zeiten hoffnungsvolle, starke Frau in aufrechter, heldenhafter Haltung zeigen. Einige der Gedichte wurden vertont.

Das Foto zeigt sie 1942

Freitag, 8. November 2024

Martin Gumpert: Euch fehlt die Phantasie

 


Zum Gedenken an den 9. November 1938: Euch fehlt die Phantasie

Daß man euch durch die Straßen jagen wird,
Daß man eure Schränke durchwühlen wird,
Daß man euer Telephon überwachen wird,
Daß man euch Titel und Namen nehmen wird,

Daß eure Freunde euch nicht mehr grüßen werden,
Daß eure Frauen euch nicht mehr lieben werden,
Daß eure Kinder euch nicht mehr achten werden,
Daß eure Diener euch nicht mehr dienen werden;

Euch fehlt die Phantasie, was wahr wird, zu erinnern,
Euch fehlt die Kraft, was wirklich wird, zu glauben,
Euch fehlt der Mut, was klar ist, zu erkennen,
Euch fehlt das Wort, und, was ihr wißt, zu sagen.

Daß man euch hinter Stacheldraht sperren wird,
Daß man euch ins Gesicht speien wird,
Daß man eure Bücher verbrennen wird,
Daß man euer Werk verleugnen wird,

Daß man euch aus dem Lande treiben wird,
Während Glocken läuten und Schafe weiden,
Während Züge pünktlich einlaufen und abfahren,
Während der Bäcker jeden Morgen das Brot bringt,

Ohne daß eine Hand sich erhebt,
Ohne daß ein Sturm sich zusammenzieht,
Ohne daß eine Stimme aufschreit,
Ohne daß eine Träne sich loslöst,

Daß ihr vergessen sein werdet, als wäret ihr nie gewesen,
Daß ihr gekommen sein werdet und davongegangen,
Daß ihr verloren sein werdet und verschollen,
Daß der Tag ohne euch dämmert und dunkeln wie je:

Euch fehlt die Phantasie, um was ihr tut, zu fürchten,
Euch ist die Macht geraubt, euch zu erschrecken,
Euch ist der Ton versagt, um aufzustöhnen,
Euch ist das Glück versagt, vor Scham zu weinen.

Martin Gumpert (1934); aus: „An den Wind geschrieben - Lyrik der Freiheit 1933 - 1945“, gesammelt, ausgewählt und eingeleitet von Manfred Schlösser, Humanistische Schriftenreihe Agora, Darmstadt 1961

Martin Gumpert, geboren 1897 in Berlin, Arzt und Schriftsteller, emigrierte 1936 in die USA, wo er 1955 in New York starb.

Freitag, 1. November 2024

Eleonore Kalkowska: Mit weichen Schleiern sollst du es umkleiden. . .

 



Mit weichen Schleiern sollst du es umkleiden. . .


Mit weichen Schleiern sollst du es umkleiden,
Was zwischen uns in jenen Tagen war,
So glüh es wie ein Licht auf nebelschweren Heiden,
Ein tiefverhülltes Bild am heiligsten Altar. ...

O, sanft und silbern möge es uns strahlen,
Wie Vollmondglanz durch leichte Wolkenschalen,
In zarter Reife soll versteckt es beben
Wie Pollen, der vom Blütenkelch umgeben. ...

So tief verschlossen, vornehm soll es ruhen,
Wie zarte Spitzen in geschnitzten Truhen,
Auf daß draus süße Düfte mögen steigen,
So oft wir unser Haupt darüber neigen.


Aus: Die Oktave, Gedichte von Eleonore Kalkowska, Egon Fleischel & Co. Berlin 1912

Eleonore Kalkowska, geboren am 22. Juni 1883 in Warschau, war eine polnisch-deutsche Schriftstellerin und Schauspielerin.

Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten wurde Eleonore Kalkowska 1933 zweimal verhaftet, jedoch nach Intervention des polnischen Gesandten jeweils kurz darauf wieder freigelassen. Daraufhin verließ sie Deutschland und lebte zunächst in Paris, danach in London. Sie starb am 21. Juli 1937 in Bern.

Montag, 28. Oktober 2024

Elsa Bernstein: Die Rose

 



Die Rose


(Zu dem Bilde von Nonnenbruch.)

Noch ist sie schön. Doch Doppelglühen
Welkt ihrer Blätter zarten Rand:
Der schwere gold´ne Blick der Sonne,
Der heiße Druck der braunen Hand.

Noch duftet sie den Blumenathem
Zur nahen Hand, zu fernen Höh´n,
Und mattend in ihr Sommersterben
Neigt sie das Haupt - noch ist sie schön.

Ernst Rosmer, Pseudonym von Elsa Bernstein, aus: Die Kunst unserer Zeit, eine Chronik des modernen Kunstlebens, Franz Hanfstaengl Kunstverlag, München, 1892

Elsa Bernstein, geboren am 28. 10. 1866 in Wien, gestorben am 12. 7. 1949 in Hamburg, arbeitete kurze Zeit als Schauspielerin, musste diesen Beruf jedoch aufgrund eines Augenleidens aufgeben. Im Jahr 1890 heiratete sie den Rechtsanwalt und Schriftsteller Max Bernstein, der Staranwalt der politischen Opposition im Kaiserreich. Während der 1880er war er Anwalt der SPD und konnte in spektakulären Prozessen die Unhaltbarkeit der im Sozialistengesetz erhobenen Vorwürfe nachweisen. Er verteidigte Maximilian Harden (und wurde von Wilhelm II. als "gemeingefährlich" bezeichnet),Erich Mühsam, Felix Fechenbach und andere.

Zusammen mit ihrem Mann unterhielt Elsa Bernstein einen künstlerisch-literarischen Salon, den sie 1939 einstellen musste. Die Möglichkeit, 1941 in die USA zu emigrieren lehnte sie ab, da ihre Schwester Gabriele keine Einreisegenehmigung erhielt. Aufgrund ihrer jüdischen Herkunft wurde sie am 25. Juni 1942 zunächst nach Dachau und bereits am 26. Juni 1942 gemeinsam mit ihrer Schwester Gabriele in das Ghetto Theresienstadt deportiert. Gabriele Porges kam im Ghetto Theresienstadt um, Elsa Bernstein wurde dort Anfang Mai 1945 befreit.

Max Nonnenbruch (1857 - 1922), Maler der Münchner Schule, die Illustration ist aus dem gleichen Band.

Sonntag, 20. Oktober 2024

Thekla Merwin . Mutter Erde

 



Mutter Erde

Wenn die Stunde schweigt und die Stille tönend wird,
Nur ein Falter sonnentrunken erdwärts irrt,
Wie das Brausen eines Meeres tönt in klare Luft,
Wie der Atem eines Gottes schwillt der Blumenduft.

Und ich fühle mich der starken Erde tief verwandt
Wie ein Kind, das seinen Weg zur Mutter fand,
Und ich schmiege mich an deinem dunklen Schoß,
Erde, Mutter, fruchtbar, liebevoll und groß!

Was ich liebe heißt nicht Vater-, sondern Mutterland,
Mutterland, das alle Menschen gleich umspannt,
Das uns unsre Nahrung reicht in voller Saat,
Und uns schlafend nimmt, wenn unsre Stunde naht.

Thekla Merwin, aus: Arbeiter-Zeitung vom 19.9.1926

Thekla Merwin, österreichische Schriftstellerin, wurde am 25. April 1887 in Riga geboren.

1911 erschienen Merwins erste Publikationen, anfangs noch gezeichnet mit Thekla Merwin-Blech. Sie veröffentlichte Gedichte, Feuilletons, kurze Prosawerke und Dialoge in dutzenden Zeitschriften und Zeitungen, eine selbstständige Publikation kam jedoch nicht heraus. 1933 wurde sie Mitglied der Vereinigung sozialistischer Schriftsteller. Thekla und Magda Merwin wurden am 24. September 1942 in das KZ Theresienstadt deportiert. Mit dem Transport vom 19. Oktober 1944 wurden Mutter und Tochter ins KZ Auschwitz-Birkenau gebracht und am 20. Oktober 1944 in der Gaskammer des Krematoriums III ermordet.

Das Bild ist von Annie Swynnerton (1844 - 1933)

Freitag, 18. Oktober 2024

Ein Gedicht von Rainer Maria Rilke aus einem Brief an Mathilde Vollmoeller

 



Ein Gedicht von Rainer Maria Rilke aus einem Brief an Mathilde Vollmoeller:

Mathilde, deine Augen, tief und klar, wie Sterne, die im Dämmerlicht erwachen,
sie flüstern mir von fernem Wunderjahr, und Schatten fliehen vor dem Sorgemachen.
In deinem Blick liegt eine leise Trauer, die Melancholie vergangener Zeiten,
wie eine Rose in des Herbstes Schauer, der letzte Blütenblätter sanft entgleiten.
Dein Lächeln, still wie eines Engels Traum, verhallt in dieser Welt voll Hast und Drängen,
ein Hauch von Ewigkeit im Weltenraum, wo Seelen sich im Sternenstaub vermengen.
Dein Wesen ist ein zartes Licht, das durch die Finsternis der Welt uns leitet,
ein Funke Hoffnung, der im Dunkeln bricht, wenn Sehnsucht uns im Innersten bestreitet.
Ersehnte, Lied in stiller Nacht, das sanft den schweren Geist umschwebt,
dein Dasein wie ein Flügelschlag erwacht, der in die Unendlichkeit des Seins erbebt.

In ewiger Zuneigung
Dein Rainer Maria


Hier der vorausgehende Text des Briefes:

Florenz, im März 1908

Meine geliebte Mathilde,

jeder Tag ohne Dich scheint mir wie eine Ewigkeit, ein unermesslicher Raum, der nur von der Sehnsucht nach Dir gefüllt wird. In den stillen Momenten, wenn die Welt um mich her verstummt, höre ich das Echo Deines Lachens, das wie ein zarter Windhauch meine Seele umweht.

Dein Bild ist in meinem Herzen eingraviert, und Deine Anwesenheit umgibt mich wie ein unsichtbarer Schleier, der mich vor der Härte der Welt schützt. Deine Augen, so tief wie die unergründlichen Meere, schenken mir einen Halt, der mich durch die stürmischsten Tage trägt. Deine Stimme, ein melodisches Flüstern, beruhigt meinen rastlosen Geist und lässt mich die Schönheit in den kleinsten Dingen erkennen.

Mathilde, Du bist die Muse meiner Gedichte, der Atem meiner Inspiration. In jedem Vers, den ich schreibe, fließt Deine Essenz mit ein, wie ein Fluss, der sein Ufer nährt. Ich erinnere mich an die Abende, die wir in Paris zusammen verbrachten, an denen wir die Kunst in all ihren Formen zelebrierten und die Zeit sich in einem Tanz verlor, der nur für uns beide existierte.

Ich sehne mich nach dem Tage, an dem wir uns wiedersehen werden, wenn ich Deine Hand in meine nehmen kann und wir gemeinsam den Pfad der Wollust beschreiten. Bis dahin bleibt mir nur der Trost Deiner Briefe, die ich mit unendlicher Freude und einem Hauch von Traurigkeit lese, da sie nur ein Schatten Deiner wirklichen Gegenwart sind und mir nichts bleibt, als mir selbst die Hand anzulegen. Ach, Geliebte …

Ich hoffe, dass diese Zeilen Dich erreichen und Dein Herz erwärmen, wie Deine Worte es immer für mich tun. Bleib stark, meine Liebe, und wisse, dass meine Gedanken stets bei Dir sind, egal wie weit wir voneinander entfernt sein mögen. Als kleine Geste meiner diskreten Sehnsucht sende ich Dir wiederum einige Verse. Mögen sie Dein Wohlgefallen finden!

Aus: Rilke Forum, Juni 2024 (das Original befindet sich derzeit unter Verschluss im Graphologischen Institut der Universität Jena)

Mathilde Vollmoeller-Purrmann, geboren am 18. Oktober 1876 in Stuttgart; gestorben am 17. Juli 1943 in München, Malerin der Moderne. Sie war ab 1912 die Ehefrau des Malers Hans Purrmann.

Mathilde Vollmoeller unternahm literarische und musikalische Versuche. 1897 zog sie nach Berlin zu ihrem Bruder Karl Gustav, der dort studierte, und nahm Unterricht in Malerei bei Sabine Lepsius und Leo von König. Im November 1897, als Stefan George zum ersten Mal im Hause des Malerehepaares Sabine und Reinhold Lepsius in Berlin aus eigenen Werken las, lernten sich Rainer Maria Rilke und Mathilde Vollmoeller kennen. Die aus 99 Briefen bestehende Korrespondenz zwischen Mathilde Vollmoeller und Rainer Maria Rilke, die mit ihrem Umzug nach Paris 1906 einsetzte und bis 1920 andauerte, wurde als Buch herausgegeben.

Thomas Theodor Heine, der Mitherausgeber des Simplicissimus, hatte schon früh den Zorn der Nationalsozialisten auf sich gezogen. 1933 stand er deshalb auf den Verhaftungslisten der Gestapo. Heine floh von München nach Berlin, wo ihn die Familie Purrmann einige Wochen in ihrer Wohnung versteckte. In dieser Zeit verstarb ein entfernter Verwandter Mathilde Vollmoeller-Purrmanns in Graz. Sie reiste dorthin und brachte dessen Reisepass mit. Hans Purrmann präparierte diesen dann so, dass Heine damit nach Prag ausreisen konnte. Nach 1935 ging das Ehepaar ins Exil nach Italien.

Mathilde Vollmöller ist eine der Schwestern von Karl Gustav Vollmoeller.

Das Portrait der Künstlerin ist von Sabine Lepsius (1864 - 1942)