Samstag, 19. Januar 2019

Maria Waser: Warum? / Auferstehung





Warum?

 

Warum bist du so weit
Von mir gegangen?
Meine Tage sind tot,
Alle Sterne verhangen.
Auf den Straßen liegen Steine,
Hart und grau,
Die dürren Wiesen schreien
Umsonst nach Tau.
Fuß und Hände und meine Stirne
So schwer —
Doch die Stunden, die da gehn,
Jede leer.

Einst war ein Tag, da alle Blumen sangen.
Weit, sehr weit bist du von mir gegangen.


Auferstehung

 

Die grünen Schleier sanken,
Der Wald ist Orgelklang.
Ich folge heimlichen Pfaden,
Geheimem Zwang.

Muß suchen jene Wege,
Die einst wir gingen zu zwein —
Wie werd ich sie ertragen,
Da ich allein?

Das Tälchen, grün verhangen,
Am Bach unser Weidenbaum,
Der steht noch in goldenem Bluste,
Und ist kein Traum?

Und atmet nicht jede Blüte
Deiner Augen Wimperhauch?
Und sprießt nicht dein goldenes Lachen
Aus jedem Strauch?

Wie kann ich nun das Wunder,
Das heilige Wunder verstehn?
Ich spür' deine reine Seele
Durch meine wehn.

So bist du nicht vergangen
Und lebtest weiter im Licht?
Ich aber ging im Dunkeln
Und wüßt' es nicht.

Die wundergroße Gnade
Soll meiner Seele geschehn:
Sie darf in deiner hellen
Auferstehn.

Und will die dunkle Welle
Sich schließen über dir,
Sie kann dich mir nicht rauben:
Du lebst in mir.

Und türmten Tod und Schicksal
Sich zwischen dich und mich,
Sie konnten uns nicht trennen,
Ich sank in dich.

Und ob auch Erd‘ und Himmel
Sich wider uns gestellt,
Sie werden uns nicht zwingen:
Wir sind die Welt!

Die grünen Schleier sanken,
Alle Bäume stehn im Licht,
Licht und Liebe sind eines:
Sie sterben nicht.



Maria Waser, aus der Sammlung „Vom Traum ins Licht“


Maria Waser, geboren am 15. Oktober 1878 in Herzogenbuchsee/Kanton Bern, gestorben 19. Januar 1939 in Zollikon/Kanton Zürich.







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