Freitag, 9. Juni 2017

Eugenie Fink: Traumgang / Gebet

Andrea Rausch: Magischer Lichttunnel




Traumgang

Ein Dorf. Uns ums Haus, ganz im Grünen versteckt,
da hab ich mich oft mit Schwestern geneckt
und im Bach wär ich beinah ertrunken.
Und beim Brunnen dort steht noch der Glaskirschenbaum,
hier lag ich und träumte und sah in den Raum,
in ziehende Wolken versunken.
Es rauscht noch der Bach, es rauscht noch der Wind,
vom Spiele erhitzt im Laufe ein Kind
mit nackten Füßen ans Ufer sank,
aus hohlen Händen das Wasser trank -
steht dort nicht die Mutter und winkt und winkt?
Wie schmerzhaft das Herz in der Brust mir springt,
was schaut mich der Vater so seltsam an?
Wie hab ich mein Leben doch halb vertan!
Wo bin ich gewesen so viele Jahr?
Ich greif mir ans Herz, ich greif mir ans Haar.
O Vater, o Mutter, ich seh euch nicht!
Die Tränen fließen mir ins Gesicht.


Gebet

Der ungesungenen Lieder sind noch viel
in meiner Seele, laß sie alle reifen;
sie blühn aus mir für dich, lehr mich dich voll begreifen!
Eh ich nicht ganz durch deinen Glanz durchdrungen,
kann ich nicht schreiten durch das dunkle Tor.
Laß mich nicht sterben, du mein Gott, bevor
ich nicht mein letztes, tiefstes Lied gesungen.

Aus: Und senden ihr Lied, Lyrik österreichischer Dichterinnen
vom 12. Jahrhundert bis zur Gegenwart, gesammelt, ausgewählt und mit einem Nachwort versehen von Minna Lachs unter Mitarbeit von Käthe Braun-Prager
Verlag Für Jugend und Volk Wien München 1963


Eugenie Fink, geboren am 24. Dezember 1891 in Biala, heute Polen, unklar ob Bielsko-Biała oder Biała (Stadt), gestorben nach dem 9. Juni 1942 im Vernichtungslager Minsk), Lyrikerin. Das genaue Datum ihres Todes ist nicht bekannt.

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