Ich habe einen Blick gesehn
Ich habe einen Blick gesehn und werde
an meinem letzten Tag ihm nicht entgehn.
Erhebt nicht diese schuldbeladne Erde,
seitdem ich diesen Blick gesehn?
An einer Lastenstraße, staubgeboren,
im Frühjahr allzu kümmerlich erblüht,
steht ein Gesträuch in eine Welt verloren,
für die sich Gott vergebens müht.
Und vor dem Strauch ist eine Frau gestanden,
und ich stand auch und sah nur ihren Blick.
Wie wurde mir! Wie hielt mit heiligen Banden
allhier ein Wunder mich zurück.
Der Blick, so arm, aus blassem Angesichte,
verlebt, verdorrt von Marter, Mangel, Mühn -
da wird vor viel irdischem Verzichte
die ganze Welt auf einmal grün!
Was immer ihr das Leben vorenthalten,
seit sie das Schicksal in das Dunkel wies:
nun ist es da und vor dem Blick der Alten
wird das Gestrüpp zum Paradies.
Kein Gärtner hütet zärtlicher die Reiser
als diese Abendsonne dieses Blicks.
Kein Himmelsstern grüßt gnädiger und weiser
die Fülle angewandten Glücks.
Ich habe einen Blick gesehn und werde
an meinem letzten Tag ihm nicht entgehn.
Erbebt nicht diese schuldbeladne Erde,
seitdem ich diesen Blick gesehn?
an meinem letzten Tag ihm nicht entgehn.
Erhebt nicht diese schuldbeladne Erde,
seitdem ich diesen Blick gesehn?
An einer Lastenstraße, staubgeboren,
im Frühjahr allzu kümmerlich erblüht,
steht ein Gesträuch in eine Welt verloren,
für die sich Gott vergebens müht.
Und vor dem Strauch ist eine Frau gestanden,
und ich stand auch und sah nur ihren Blick.
Wie wurde mir! Wie hielt mit heiligen Banden
allhier ein Wunder mich zurück.
Der Blick, so arm, aus blassem Angesichte,
verlebt, verdorrt von Marter, Mangel, Mühn -
da wird vor viel irdischem Verzichte
die ganze Welt auf einmal grün!
Was immer ihr das Leben vorenthalten,
seit sie das Schicksal in das Dunkel wies:
nun ist es da und vor dem Blick der Alten
wird das Gestrüpp zum Paradies.
Kein Gärtner hütet zärtlicher die Reiser
als diese Abendsonne dieses Blicks.
Kein Himmelsstern grüßt gnädiger und weiser
die Fülle angewandten Glücks.
Ich habe einen Blick gesehn und werde
an meinem letzten Tag ihm nicht entgehn.
Erbebt nicht diese schuldbeladne Erde,
seitdem ich diesen Blick gesehn?
Karl Kraus, 1919
Karl Kraus, geboren am 28. April 1874 in Jičín, Böhmen war einer der bedeutendsten österreichischen Schriftsteller des beginnenden 20. Jahrhunderts. Er war Publizist, Satiriker, Lyriker, Aphoristiker, Dramatiker, Förderer junger Autoren, Sprach- und Kulturkritiker sowie vor allem ein scharfer Beobachter und Kritiker der Presse. Von 1898 bis 1936 gab er die Zeitschrift „Die Fackel“ heraus. Er starb am 12. 6. 1936 in Wien an einem Gehirnschlag.
Die "Machtergreifung" 1933 im benachbarten Deutschland schien Karl Kraus zunächst die Sprache zu verschlagen. Erst im Oktober 1933 meldete er sich erneut mit der dünnsten „Fackel“ zu Wort (vier Seiten), die er jemals herausgegeben hat. Neben einer Grabrede für Adolf Loos enthält sie nur das folgende Gedicht:
Man frage nicht, was all die Zeit ich machte.
Ich bleibe stumm;
und sage nicht, warum.
Und Stille gibt es, da die Erde krachte.
Kein Wort, das traf;
man spricht nur aus dem Schlaf.
Und träumt von einer Sonne, welche lachte.
Es geht vorbei;
nachher war's einerlei.
Das Wort entschlief, als jene Welt erwachte.
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