Samstag, 5. Oktober 2019

Victor Hadwiger: Bewegter Wald, Erich Mühsam: Erinnerungen an Victor Hadwiger



Bewegter Wald

Wie eine große Welle ist der Wald
Und wie das Ringen weiter Seligkeiten
Der Sturm. - -
Dann laß die Schatten meiner Seele untertauchen,
Und mich ins Herz der Erde horchen
Wenn meine Zeit kein Pendel mehr zerreißt -
Und horchen und suchen
Die Spur der Ausgangslosen.

Ein langes, langes Beten wird mein Leben,
Ein Schauen, ein Schauern wird es,
Und endlich kalt und groß
Und dunkel wie der Wald.
Was heiß und licht in meiner Seele war
Ich gabs dem Sturme
Was heiß und licht und sündig
Es rauscht, es rauscht,
Die Augen meiner Seele sehen
Den fernen Zug.
Wie eine Schaar von Wandervögeln
Wie ein beredtes Heer von tausend Drosseln
Aufsteigt aus dem Wacholderhain! -
Euch meine besten Sünden gab ich hin,
Dort - dort - und weiter, weiter -
Sie fliegen um den Mond
Den hellen Hof entlang
Vorbei, vorbei - -
Dort wohnt der liebe Gott. -
Ein langes, banges Beten war mein Leben
Ich hör das Herz der Erde pochen.
"Und gieb mir nur das Eine
Vergieb mir nichts,
Laß dort mein Angedenken weiterrauschen
Die braunen Wandervögel." -
Fühl ich es nicht, wie blaß und braun durchs Nebelmeer
Die weichen Flocken fallen, -
Und Flügelchen um Flügelchen. - - -

Das Herz der Erde pocht
Der Wald ist kalt und groß
Und stumm und schrecklich,
Wie eine schwarze Woge in den Himmel
Greift, gräbt der Wald -
Der Wald rächt mich.

Aus: Die Aktion Zeitschrift für freiheitliche Politik und Literatur
Herausgegeben von Franz Pfemfert
Nr. 21 Jahrgang 1911

Aus Erich Mühsam „Unpolitische Erinnerungen“ über Victor Hadwiger (1878 - 1911): Meiner Wirtin muß wohl die Boheme-Atmosphäre, die ich in ihre Wohnung gebracht hatte, sehr zugesagt haben. Denn eines Tages berichtete sie mir, daß der Herr, der die beiden kleineren Zimmer auf der anderen Seite des Korridors bewohne, ausziehe; es wäre ihr recht, wenn einer meiner Freunde sie nähme. Ich hatte gerade wieder einen Schlafburschen zu beherbergen. Das war der Prager Lyriker Viktor Hadwiger, der plötzlich im »Café des Westens« aufgetaucht war und mir dort eine Empfehlung, ich glaube von Hugo Salus, überbrachte. Ein großer, schwerer Mensch, dem die ungeordneten blonden Haarsträhnen und der kräftige Knebelbart ein ziemlich wildes Aussehen gaben, das, zumal in Verbindung mit seinem äußerst robusten Auftreten, die tiefe Bildschönheit seiner Verse nicht ahnen ließ. Der wurde also jetzt mein Zimmernachbar, und ich wurde der ständige Zeuge seiner Maßlosigkeiten. Hadwiger war maßlos in allem: im Trinken, Rauchen und Fluchen, im Überschwang der Glückseligkeit und im Weltschmerz. Hatte er kein Geld, um Tabak oder Schnaps zu kaufen, war er bei einer Frau abgefahren, ärgerte er sich über irgendwas, dann konnte er mörderisch schimpfen; ich habe keinen anderen Menschen getroffen, dem in der Wut eine solche Sturzflut haarsträubendster Unflätigkeiten zur Verfügung stand. War ihm aber etwas zum Guten ausgegangen, hatte er unerwartet Geld bekommen, war ihm ein Gedicht gelungen, hatte sich ein Mädchen von ihm küssen lassen, dann leuchteten seine großen, hellblauen Augen, seine Stimme wurde weich und schmeichelnd, und man spürte ein inneres Tanzen in dem mächtigen Körper des Mannes. Mehrmals weckte mich Hadwiger in der Nacht auf, kam polternd in Unterhosen in mein Zimmer herüber und wollte wissen, ob mir ein Vers gefalle oder ob ich diese oder jene Wortverbindung in einem Gedicht für zulässig halte. Oder er brachte ein eben fertig gewordenes Gedicht, erklärte es in unbändiger Begeisterung als das beste, das ihm je gelungen sei, und trug es mit Bärenstimme vor. Ich hielt so viel von Hadwigers dichterischer Begabung, daß ich ihm einen Abend im Peter-Hille-Kabarett zur Vorlesung verschaffte, bei dem ich in einleitenden Worten die Überzeugung aussprach, hier wachse das lyrische Talent der Zukunft heran. Viktor Hadwiger ist 1911 mit dreiunddreißig Jahren gestorben. Außer dem 1903 erschienenen Versband Ich bin und wenigen Novellen ist meines Wissens zu seinen Lebzeiten kein Buch von ihm gedruckt worden. Nach seinem Tode gab Dr. Anselm Ruest ein ganz kleines Bändchen ausgewählter Gedichte heraus, das unter dem Titel Wenn unter uns ein Wanderer ist bei Alfred Richard Meyer verlegt wurde. Auf dem Umschlag des Heftes, sprechend ähnlich und psychologisch glänzend erfasst, steht, von John Höxter gezeichnet, der Kopf des Dichters.

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