Ich trauere
Was ich erlebt, erscheint mir nun verflossen
in längst verblassten und entschwundenen Zeiten
wie alte Bilder, die vorüber gleiten
an meinen Augen, die sich schon geschlossen.
Was ich jedoch am meisten hab genossen,
kann heute auch noch Sehnsucht mir bereiten:
es sind die unbegrenzten Möglichkeiten,
die jeder Tag einst über mich ergossen.
Ich trauere um die Pracht der fernen Städte,
der Meere, Länder, wo ich nie gewesen,
um Liebe, die vielleicht ich noch gefunden hätte,
um Worte, die noch nicht in mir erwachten,
um tausend Bücher, die ich nicht gelesen
und die mich dennoch reich und glücklich machten.
Aus: Marion Neuhold, „Maria Lazar (1895 - 1948), Analyse ihres Exilromans „Die Eingeborenen von Maria Blut“, Diplomarbeit, Wien 2012
Maria Lazar, Pseudonym Esther Grenen, geboren am 22. November 1895 in Wien, Österreich-Ungarn; gestorben am 30. März 1948 in Stockholm war eine österreichische Schriftstellerin.
Im Sommer 1933 folgte sie einer Einladung der Schriftstellerin Karin Michaëlis und ging ins Exil auf die dänische Insel Thurø, zusammen mit Bertolt Brecht und Helene Weigel. Während der Jahre ihres Exils schrieb Lazar zahlreiche Beiträge für skandinavische und Schweizer Zeitungen und lebte unter anderem von Übersetzungen literarischer Werke aus dem Dänischen und Schwedischen ins Deutsche. 1939 zog sie, durch die Heirat mit Strindberg schwedische Staatsbürgerin geworden, mit ihrer Tochter Judith Lazar nach Schweden. Nachdem bei ihr eine unheilbare Knochenkrankheit diagnostiziert worden war, beendete sie am 30. März 1948 in Stockholm ihr Leben durch Suizid.
Das Bild ist von Arthur B. Davies (1862 - 1928)
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