Sonntag, 29. September 2024

Ida Dehmel: Das Perlgewebe

 



Das Perlgewebe

Ich sitze dunkle Frau in meinem Zimmer,
stille, dunkle, große Frau.
Weiß ist das Zimmer, weit seine Wände;
weiß ist mein Kleid, mein Webstuhl weiß.
Und vor mir buntgehäuft ein Schatz Perlschnüre.
Was will ich dunkle Frau denn weben? – Mein Leben.

Weiß, weiß und golden sind die Farben meiner Jugend,
ein morgenblauer Himmel über mir.
Himmelschlüssel blühn auf unsern Wiesen.
Viele kleine Blumen will ich weben,
zart ein glückliches Lachen dazwischen,
Alles leuchtet dem spielenden Kind.

Mutter starb. Die Farben werden blasser.
Dunkle Trauerzweige sprießen auf,
schwanke Linien aus flimmerndem Grund,
Thränen glitzern, Sehnsuchtsthränen.
Kind, ich große Frau möcht gern dich trösten;
sieh, ich setz ein funkelnd Sternlein über dich.

Und nun mischen sich die bunten Perlen:
stolz und heftig schießt ein Blutrot hoch
durch ein trotziges Gelb in schroffen Kanten,
hell im Kampf mit strengen grauen Mächten
bäumt die aufwärtsflammende Seele sich:
rot und golden sind die Farben dieser Jungfrau.

Und aus Rot und Gold paart sich ein Schrei nach Liebe.
Rosen blühn aus meinen Händen auf,
jeder Kelch voll Tau und Sonnentraum.
Schwer in Büscheln rankt sich ein Clematisstrauch
um die Rosen lilasanft ins Blaue;
die Verheißung glüht aus allen Blüten.

Die Erfüllung log. Nun wirren sich die Fäden.
Fahl und grell verschlingen sich die Schnüre.
Jeder Weg ein Irrweg, und kein Kreis geschlossen.
Zuchtlos drängt sich wildes Gestrüpp
über meine Wiesen, meinen Blumenteppich;
und der Stern der Mutter birgt sich hinter Nebeln.

Da – ein klarer Klang: stark: eines Helden Ton.
Schwarz wie der Ursprung, golden wie das Licht,
und moosgrün wie der Wald, aus dem die ersten Menschen kamen.
Auch blau sein Himmel, aber mittagsblau;
auch rot sein Blut, doch nordlichtnächtig rot.
Und über Alles breitet sich sein Glanz.

O wie sich unsre Farben herrlich einen:
Leere wird Fülle, und sie strömt wie Quellen,
aus ihren Fluten steigt des Schöpfungstages Feste,
mein Stern strahlt durch des Weltbaums Blütenäste –
So kann ich meine Träume und mein Leben
zum Werk verwebt in Gottes Hände geben.

Ida Dehmel, aus: Schöne wilde Welt, Neue Gedichte und Sprüche, S. Fischer Verlag, Berlin 1913

Ida Dehmel, geboren am 14. Januar 1870 in Bingen am Rhein als Ida Coblenz; gestorben am 29. September 1942 in Hamburg.

In der Zeit des Nationalsozialismus wurde sie aufgrund der herrschenden rassistischen und antisemitischen Staatsdoktrin als „Jüdin“ ausgegrenzt und entrechtet. Der unmittelbar bevorstehenden Deportation und Ermordung entzog sie sich durch Suizid.

1901 heirateten Ida und Richard Dehmel, die sich beide von ihren Ehegatten hatten scheiden lassen, das Paar bewegte sich in Künstlerkreisen in Darmstadt, Weimar und Wien. Richard Dehmel starb 1920.

Das Bild ist ein Ausschnitt aus einem Portrait der Dichterin von Julie Wolfthorn, geboren am 8. Januar 1864 in Thorn, Westpreußen; gestorben am 29. Dezember 1944 im KZ Theresienstadt, Malerin, Zeichnerin und Grafikerin der Moderne. Als Jüdin wurde sie ein Opfer der Shoa. Bis auf wenige Bilder in den Depots deutscher Museen galt ihr umfangreiches Werk lange Zeit als verschollen und wurde erst Anfang 2000 wiederentdeckt.

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