Die Tochter
(Meinem Vater)
Ob ich formend noch in Händen trage,
Was, ein Flimmern, aller Form entflieht,
Doch im Sinn die Schale einer Waage
Tief und wie behutsam niederzieht,
Ob ich mit geeichten Worten messe,
Was zuweilen unermesslich scheint,
Keine Erzesschmelze wie die Esse,
Nicht gewaltstolz wie ein Feind?
Dieses ist nur Duft in einem Zimmer,
Duft von Blumen, die man niemals schaut;
Es verwittert, und ich schütz´ es nimmer;
Denn es kehrt mit einem Vogellaut:
Zwitscherschlag am Fenster einer Meise,
Am Gesims der schwarz beschenkte Star,
Und es ist auf unbekannte Weise
Wieder um mich, wie es war.
Ruft uns nicht die goldgekrönte Starke,
Die des armen Mädchens Herz bewegt,
Die es führt zur wundervollen Barke
Und ihm dann die Hand vor Augen legt.
Die das Weib dem Manne wirft und bindet?
Zwischen Kind und Vater weilt und schweift
Eine Stimme nur, die sinkt und schwindet,
Und ein Saum, der leise schweift.
Und Gespräche wandeln, matt, alltäglich,
Fern den wilden, blutdurchglänzten Schrei,
Der sich hebt und aussagt, was unsäglich;
Keine Sonne bricht uns Gott entzwei. . .
Ach, wie darf ich in Vergleiche rahmen,
Was sich kaum zum Bilde mir geklärt?
Eine Liebe ohne Liebesnamen,
Die oft siecht - und schweigt. Und immer währt.
Gertrud Chodziesner (Gertrud Kolmar), aus: Central- Verein- Zeitung, Allgemeine Zeitung des Judentums, XV. Jahrgang, Nr. 15. Berlin, 9. April 1936
Gertrud Kolmar (Pseudonym für Gertrud Käthe Chodziesner, geboren am 10. Dezember 1894 in Berlin. Ab Ende der 1920er-Jahre erschienen einzelne ihrer Gedichte in literarischen Zeitschriften und Anthologien. 1934 wurde ihr zweiter Gedichtband Preußische Wappen im Verlag Die Rabenpresse von Victor Otto Stomps publiziert. Diese Veröffentlichung brachte den Verlag auf eine Liste unerwünschter Verlage des Börsenvereins des deutschen Buchhandels, von dem er dann boykottiert wurde. Kolmar durfte ab 1936 nicht mehr unter ihrem Künstlernamen publizieren, sondern nur noch unter ihrem Familiennamen Chodziesner.
Ab Juli 1941 musste Gertrud Kolmar Zwangsarbeit in der Rüstungsindustrie leisten. Ihr Vater wurde im September 1942 in das Ghetto Theresienstadt deportiert und starb dort im Februar 1943. Gertrud Kolmar wurde am 27. Februar 1943 verhaftet und am 2. März 1943 im 32. sogenannten Osttransport des RSHA in das Konzentrationslager Auschwitz deportiert. Von den etwa 1500 Berliner Jüdinnen und Juden, die in diesem Zug am 3. März 1943 in Auschwitz ankamen, wurden nach der Selektion an der 'Alten Rampe' 535 Männer und 145 Frauen als „arbeitsfähige“ Häftlinge registriert und in das Lager eingewiesen. Die übrigen etwa 820 Deportierten dieses Zuges, darunter Gertrud Kolmar, wurden nicht als Häftlinge registriert und vermutlich sofort nach der Ankunft in der Gaskammer ermordet.
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