Freitag, 26. Dezember 2025

Max Herrmann-Neiße: Breslauer Winterkälte

 


Breslauer Winterkälte

Nachts kriecht die Kälte aus dem Odereise
und färbt den Mann der Würstchenbude blau.
Um den Matthiasplatz in irrem Kreise
trabt wahngetrieben eine Zeitungsfrau.
Im Torweg Liebespaare stumm erstarrten
zu gotisch keuschen Statuen von Stein.
Den Grogerhitzten, die sich gröhlend narrten,
gefrieren ihre heisren Stimmen ein.
Das Droschkenpferd und hinter ihm der Wagen,
sie schleppen sich als Gelähmte fort.
Und ein Student mit hochgeschlagnem Kragen
verlor die Würde und das Ehrenwort
und sehnt sich nur noch nach der warmen Klause.
So leer wie jetzt war nie der Straßenschacht.
Verdächtge lauern heut an keinem Hause,
auch Tiere bargen sich vor dieser Nacht.
Ins Nichts des Himmels treibt bedrohlich düster
durchs Wolkeneis ein Totenschiff: der Dom.
Und fluchend mit den Schollen wirft als wüster,
heilloser Trunkenbold der Oderstrom.

Max Hermann-Neiße, aus: Um uns die Stadt, Eine Anthologie neuer Großstadtdichtung, Herausgeber Robert Seitz, Heinz Zucker, Sieben-Stäbe-Verlag, Berlin 1931

Max Herrmann-Neiße, geboren am 23. Mai 1886 in Neiße, Schlesien; gestorben am 8. April 1941 in London, Deutscher Dichter, von den Nationalsozialisten ins Exil getrieben, in dem er 1941, wurzellos, starb.

Das Foto zeigt eine Postkarte aus Breslau in den 30er Jah
ren.

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