Samstag, 16. März 2019

Egon Friedell: Der verkleidete Dichter

Egon Friedell, Foto von Otto Skall (1884 - 1942)



Der verkleidete Dichter

 

Die Menschen sind sehr sonderbar. Sie irren mißlaunig und ratlos umher und suchen nach Kunst und nach Dichtern. Sie wollen ihr Leben erhöht sehen, den Sinn der Stunde erklärt wissen, Schönheit erblicken. Sie blättern in alten Büchern; aber die reden zu Menschen, die längst Gerippe geworden sind. Sie spähen ängstlich und angestrengt aus, ob sich nicht am Horizont ein neues Licht zeigt. Es zeigt sich nicht. Denn am Horizont – nein, da ist es nicht zu finden. Sondern es müßte mitten unter ihnen, neben ihnen, in ihnen selbst – da müßte es aufleuchten. Da aber suchen sie es niemals. Ein Dichter, denken sie, muß aufsteigen wie eine ferne, blendende Prachtsonne, in blutigroten, pompösen Farben. Es gibt aber keine »pompösen Dichter«.

So machen es die Menschen in allem. Sie erwarten immer etwas »Besonderes«. Das Besondere ist aber die dahinrinnende Stunde, auf die sie niemals achten. Sie begeben sich auf große Reisen und betrachten absonderliche Pflanzen, fremde Tiere, exotisch gebaute Städte, andersfarbige und andersdenkende Menschen. Diese Dinge gehen sie aber gar nichts an. Was sie allein etwas angeht, das ist ihre kleine Stube mit den tausend Lappalien und Nichtigkeiten, die aber die ihrigen sind. Dies gehört ihnen: nichts anderes. Sie suchen den ganzen Planeten nach Poesie ab und finden nicht ein Stückchen; inzwischen aber sitzt in ihrem Zimmer die Poesie und wartet, wartet unaufhörlich und vergeblich.

Und ihre Dichter warten ebenso vergeblich. Sie gehen inkognito unter ihnen herum wie die Könige in den Anekdoten. Sie sprechen mit dem Volk, das Volk antwortet ihnen kaum und sieht an ihnen vorbei. Später kommt dann einer und erklärt den Leuten, wer das gewesen sei. Aber inzwischen hat sich der verkleidete König längst davongemacht. Zweihundert Jahre nach Shakespeares Tode kamen einige Menschen und sagten: »Ja wißt ihr denn, wer dieser kleine Schauspieler und Schmierendirektor war, von dem seine Zeit nichts aufbewahrt hat, als daß er einmal wegen Wilderns in Untersuchung war? Es war William Shakespeare!« Da waren alle sehr erstaunt, aber Shakespeare hatte sich längst davongemacht.

Das, was von einem Dichter »bleibt«: seine dürftigen und mühseligen Aufzeichnungen – das ist der am wenigsten wertvolle Teil seiner Persönlichkeit. Es sind ein paar dünne Licht- und Wärmestrahlen; nicht die Licht- und Wärmequelle selbst. Freilich leuchtet und wärmt diese, auch erkaltet, noch weiter; aber das liegt nur daran, daß ihre Strahlen so langsam zu uns dringen. 



Egon Friedell, sein Geburtsname war Egon Friedmann, geboren am 21. Januar 1878 in Wien, war Journalist, Schriftsteller, Dramatiker, Theaterkriter, Kulturphilosoph.

Nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich schrieb Friedell am 11. März 1938 an Ödön von Horváth: „Jedenfalls bin ich immer in jedem Sinne reisefertig“. Freunde rieten ihm vergeblich zur Ausreise; Friedell war so verzweifelt, dass er sie auf Knien um Gift oder eine Pistole bat.

Am 16. März 1938 erschienen gegen 22 Uhr zwei SA-Männer vor Friedells Wohnung und fragten nach dem „Jud Friedell“. Einigen Quellen zufolge sollte Friedell bei diesem „Besuch“ der SA noch nicht verhaftet werden. Friedell erwartete jedoch seine Verhaftung. Während sie mit seiner Haushälterin sprachen, nahm er sich das Leben, indem er aus einem Fenster der im 3. Stock gelegenen Wohnung sprang. Verbrieft ist, dass er dabei nicht verabsäumte, die Passanten umsichtig mit dem Ausruf „Treten Sie zur Seite!“ zu warnen.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen