Mittwoch, 15. Februar 2017

Otto zur Linde: Nach Mitternacht





Nach Mitternacht



Des Dichters einsame Lampe glüht
Noch spät nach Mitternacht –
Die Welt liegt längst in Kissen müd,
Wenn er am Schreibtisch wacht.



Der Tag schloss seine Tore zu,
Die Nacht ist aufgetan.
Nun alles Laute sank zur Ruh,
Hebt Leises lieblich an.



Verborgnes Spinnrad summt und singt –
Des Dichters Seele lauscht,
Was aus dem Innen zu ihm dringt,
Was aus dem Unten rauscht.



Und seines Zimmers Wände rolln
Weit auseinander; fern
Ist nah nun; aus dem Wundervolln
Ergießt sich Strom und Stern.



Des Dichters Welt ist voll umstellt
Von Bildern wahr und groß.
Geheimstes ist nun ganz erhellt
Und jede Hülle bloß.



Was ihn aus Augen angeschaut
Am Tag so rätselblind,
Das ist ihm offen anvertraut
Und schuldlos wie ein Kind.



Die überirdsche Blume blüht,
Die Herzen trunken macht.
Des Dichters einsame Lampe glüht
Noch spät mach Mitternacht.



Otto zur Linde, geboren am 26. 4. 1873 in Essen, gestorben am 16. 2. 1938 in Berlin, war ein seltsam vergrübelter Dichter. Zusammen mit Rudolf Pannwitz, einem anderen, ähnlich ausgerichteten deutschen Schriftsteller und Philosophen, gab er 1904 bis 1911 eine Zeitschrift mit dem bezeichnenden Namen "Charon" heraus. Er lebte zurückgezogen in Berlin, 1925 stellte er das Schreiben ein. In seinen letzten Jahren seines Lebens erblindete er mehr und mehr und versank in Melancholie und Depression.

Vieles seines späteren Schaffens erinnert mich an den Tao Te King von Laotse. So schrieb er viele Gedichte, ungereimt und philosophischen Inhalts, die ähnlich auch in chinesischen taoistischen Werken hätten stehen können:

Das ist die neue Frömmigkeit,

Die nicht mehr vorwegnimmt
Weder ein Ziel noch einen Abschluß.

Seele ist sich.
Wenn du dich „wiedererkennst“,
Hilfst du der Welt.

Aber wenn du nicht „vorwegnimmst“,
Nimmt deine Rachsucht
Auch nicht mehr hinterweg.

So befriede ich mich
Meiner Einsamkeit
Und warte auf der Welt „Antwort“.

Otto zur Linde





„Ich habe das Herz eines Toren, so wirr und dunkel.
Die Weltmenschen sind hell, ach so hell;
nur ich bin wie trübe.
Die Weltmenschen sind klug, ach so klug;
nur ich bin wie verschlossen in mir,
unruhig, ach, als wie das Meer,
wirbelnd, ach, ohn Unterlaß.
Alle Menschen haben ihre Zwecke;
nur ich bin müßig wie ein Bettler.
Ich allein bin anders als die Menschen:
Doch ich halte es wert,
Nahrung zu suchen bei der Mutter.



Aus: Laotse  -  Tao Te King, 20. Abschnitt, Übersetzung von Richard Wilhelm


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen