Freitag, 8. September 2023

Alfred Grünewald - Aus: Renatos Gesang (4 - 6)

 



4

Das Abendmännlein hob sich aus dem Moose
und trat mich an. (Sein Scheitel reichte kaum
bis an mein Knie.) Es wisperte wie Traum
und stand vor mir in zauberischer Pose.

Und bot mir ernsthaft eine weiiße Rose.
Ihr Duft war Kindheit. Mondlicht war ihr Flaum.
Ich neigte mich, daß meiner Lippe Saum
in leisem Kuß berühr die Makellose,

Da stürzte Himmel nieder. Ich verging 
in einem Meer von lauter goldner Bläue.
Und wachte staunend Wieder auf und hing

in einem Sternenbaum; versank aufs neue.
Und taumelte empor, ein Schmetterling,
und wußte tief im Traum, daß ich mich freue.


5

Neig dich, bestrahlte Wolke, über mich
und hülle mich in goldenes Vergessen.
Dein Tau soll meine schweren Lider nässen;
denn eines tiefen Traumes harre ich.

Ich lieg im Gras. Die Nelken hauchen. Kressen
sind nahe meiner Stirn. Es öffnen sich
Mondblumen, die der Abendwind bestrich.
Die Stille liegt gebreitet unermessen.

Ist in der Kühle, die mich jetzt umwebt,
schon deines Neigens Gruß? Schweb ich nach oben?
Versank die Welt mit Taumel, Trug und Toben ?

Ist es mein Traum nur, der mir so entschwebt?
Ists noch mein Herz, was in der Brust mir bebt?
Ist mir das Herz in deinem Glanz zerstoben?


6

Ich bin so voll von tiefer Heimlichkeit,
ich mein Lächeln hüte wie Verrat.
Es flüstert um mich her auf jedem Pfad,
und jeder Halm spricht mir von Lust und Leid.

Denn die Gefühle sind nicht mehr entzweit.
Ich hegte Lachen, Weinen ja wie Saat.
Nun sprießen sie in meinen Traum. Ich bat
mein Herz von einst: O sei dem Traum bereit.

Und ich entschlief und wandle nun im Schlaf
mit sicherm Schritt und weiß, ich kann nicht fallen.
Die Blumen leuchten, wenn mein Blick sie traf,

und selig über mir die Wolken wallen.
War es Gott selbst, der meinen Traum ersann?
Ich bin zu nichts vergangen und begann.

Alfred Grünewald, aus: Renatos Gesang - Ein Buch der Einsamkeit, mit Steinzeichnungen von Fritz Czuczka. Verlag Paul Stern, Wien 1921

Alfred Grünewald wurde am 17. März 1884 in Wien geboren. Nach den Novemberpogromen 1938 wurde er am 14. November 1938 in das KZ Dachau verbracht, im Januar 1939 wurde er wieder entlassen. Er floh über die Schweiz nach Südfrankreich, nach Kriegsausbruch wurde er in der Fort-Carré in Antibes und im Lager Les Milles interniert, bis Herbst 1942 lebte er in Nizza. Dort wurde er von der Polizei des Vichy-Regimes festgenommen und an die SS ausgeliefert. In Auschwitz wurde er am 9. September 1942 ermordet.

„Sie sagten ferner, daß auf einer der beiden, hier vorhandenen Einsiedeleien sich ein vornehmer französischer Cavalier, namens Renato, als Einsiedler . . . befände“ (Cervantes, aus: Irrfahrten des Persiles und der Sigismunda, eine nordische Geschichte, Cervantes sämtliche Werke, Leipzig 1825)

Die Illustration ist aus dem Buch

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen