Freitag, 15. Dezember 2023

Victor Wittner: Rückblick

 



Rückblick


Was ist das Leben denn gewesen?
. . . Die Türen auf- und zugemacht,
die Kleider an- und abgestreift,
bei Tag geträumt, gewacht bei Nacht,
und viele Straßen Tag und Nacht
die Einsamkeit mit sich geschleift,
von ihrer Krankheit oft genesen,
zu ihrer Weisheit nie gereift.
In Zeitungen die Zeit gelesen,
im Wahnsinn ihren Sinn bedacht,
hineingeweint in seine Seele
und oft aus überenger Kehle
die ganze Angst herausgelacht!
Im Bad gesäumt, geträumt, geseift,
gesehnt und einer Frau gedacht,
die man beim Tanze süß gestreift. . .
und ganz erstaunt das fremde Wesen
im Spiegel prüfend überwacht,
das unser Ich, doch unser nie gewesen.

Victor Wittner, geboren am 1. 3. 1896 in Herta, Rumänien, gestorben am 27. 10. 1949 in Wien, Schriftsteller und Lyriker.

Wittner arbeitete ab 1928 als Redakteur und von Januar 1930 bis Mai 1933 als Chefredakteur der in Berlin herausgegebenen Kulturzeitschrift „Der Querschnitt. Magazin der aktuellen Ewigkeitswerte“. Nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten 1933 ging er zurück nach Wien, wo er aus Armut häufig die Wohnung wechseln musste. Nach dem Anschluss Österreichs 1938 floh er nach Prag und dann in die Schweiz. Er wurde zunächst interniert und lebte dann in Flüchtlingsunterkünften in Zürich. Er erhielt in der Schweiz erst 1945 eine Arbeitserlaubnis. Ab 1947 hielt er sich zeitweise auch wieder in Wien auf.

Das Bild ist von Edvard Munch (1863 - 1944)

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen