Mittwoch, 5. Juli 2023

Aus: Wir - Gedichte von Frieda Mehler

 



Ich aber habe Sehnsucht,
Sehnsucht nach Menschen,
Nicht nach dem maskenhaften Gaukelspiel,
Das uns umgibt.
Nach Menschen, blutvolll lebendig,
Die leiden, lieben und schaffen können,
Die wissen, dass sie leben.
Ich aber habe Sehnsucht, Sehnsucht nach Worten,
Die nicht abgegriffene Worte sind,
Nicht hunderttausend Mal gehörte,
Nach Worten, die überschäumen
Von Inhalt, von klingenden, singenden Tönen,
Die Gedanken haben und geben.
Ich aber habe Sehnsucht, Sehnsucht nach Liebe.
Nach stiller, leiser, feiner Zärtlichkeit,
Nach einer Seele, die meiner verwandt,
Die mich in ihrem Spiegel aufnimmt und zurückwirft
Und mit mir lacht und klagt.

* * *

Ich bin nur eine von den vielen,
Die unbeachtet ihres Weges ziehen,
Die unverzagt nach fernen, stillen Zielen
Sich sehnen, schreiten, unentwegt sich mühen.
Ich bin nur eine von den Frauen,
Die in der großen, dumpfen Masse gehen,
Verträumten Auges in die Weite schauen
Und dieser Zeiten Nöte nicht verstehen.
Ich bin nur eine von den allen,
Die eines Tages still am Wege bleiben,
Schatten, die schwinden, Schritte, die verhallen,
Wie Spuren, die im Sand wir spielend schreiben.

* * *

Wir sind der Menschheit Dünger,
Der zur Blüte treibt
Die kommenden Geschlechter, wenn wir gingen.
Wir sind die Asche, die von wilden Feuern bleibt,
Die wir gebrannt, das Schicksal und zu zwingen.
Wir sind ein Staub, der an den Wegen rastet,
Wenn wild in Stürmen junge Scharen ziehen.
Am Fuße haftend, der vorüberhastet,
Dem allgemeinen Sterben zu entfliehen.
Ihr seid der Keim, wir sind die warme Hülle,
Die Eure Wurzel mütterlich umschließt,
Wenn Ihr getrieben von der Kräfte Überfülle,
Der Zukunftssonne zu in Blüten schießt.
Wir müssen enden, dass Ihr werden könnt.
Den Fortschritt stark und kräftig sucht.
Wir sterben, dass zu leben Euch vergönnt.
Wir sind der Boden und Ihr seid die Frucht.

* * *

Einmal, ehe ich herniederstieg zu dieser Welt,
War ich der Sternenwelt verschwistert,
Wenn ein Stern aus seiner Höhe fällt,
Fühle ich sein Bruderwort mir zugeflüstert.
Was mir blieb, seitdem mich diese Erde trägt,
Ist die Sehnsucht nach dem ganz Erhabenen,
Wenn mein Herz im Gleichtakt mit den Sternen schlägt,
Fühl´ die Last ich des in Staub begrabenen.
Mensch ist höchstes, Mensch ist tiefstes Sein,
Mensch ist unvergänglich und doch endlich,
Menschsein schließet alle Höllen ein,
Mensch ist, was ewig unverständlich.

* * *

Man sollte geizen mit den letzten Stunden,
Die uns das Leben, die der Tod uns gönnt,
Man sollte eilen, bis man heimgefunden,
Eh´ noch der Lampe letztes Öl verbrennt.
Es blieb noch vieles ungetan am Wege,
Man hetzt ihm nach und holt es nicht mehr ein
Und fühlt: des Herzens letzte, wilde Schläge,
Sie werden immer um Versäumtes sein.
Ein Mund verstummt, ein Auge bleibt verschlossen,
Was Du auch bringen magst, es ist zu spät,
Und Du stehst schweigend vor dem Weggenossen,
Der Deinen Blick, Dein Wort nicht mehr versteht.

Aus: Wir - Gedichte von Frieda Mehler, Berthold Levy / Jüdischer Buchverlag, Berlin 1937

Frieda Mehler, Dichterin und Kinderbuchautorin, geboren am 20. Mai 1871 in Halberstadt. Am 28. Februar 1939 emigrierte sie in die Niederlande. Am 2. Juli 1943 wurde sie vom Lager Westerbork in das Vernichtungslager Sobibor deportiert, wo sie wahrscheinlich am 5. Juli 1943 ermordet wurde.

„Zu herzlichen Glückwünschen und Geburtstagsgrüßen scharen sich daher am 20. Mai viele große und kleine Kinder, die Märchengestalten ihrer Chanukahsagen, echt deutsche Feen und magische aus Phantasieländern, Luftgeister in wundersamer Schwebe zwischen Orient und Occident, Rehe aus den Heimatwäldern der Dichterin und die biblischen Herden, deren Urenkel noch heute am Kamelhang weiden, sowie unter zahlreichen Freunden aus Vergangenheit und Gegenwart auch als alter Märchenfreund.“

Auszug aus der Würdigung in den Posener Heimatblättern zu Frieda Mehlers 65. Geburtstag, von Arthur Silbergleit, Dichter der Breslauer Dichterschule, geboren Mai 1881 in Gleiwitz, ermordet März 1943 in Auschwitz.

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