Freitag, 14. Juli 2023

Walter Benjamin: Sonette - LIII.

 



Sonette - LIII.


In aller Schönheit liegt geheime Trauer
Undeutlich nämlich bleibt sie immerdar
Zwiefach und zwiefach unenträtselbar
Sich selbst verhüllt und dunkel dem Beschauer

Sie gleicht nicht Lebenden in ihrer Dauer
Kein Lebender nimmt sie im Letzten wahr
An ihr bleibt Schein wie Tau und Wind im Haar
Je näher nahgerückt je ungenauer

Sie steht wie Helena im Dämmerlicht
Der beiden Welten Sprache taugt ihr nicht
Es sei denn blendend ihr Geschlecht zu trennen

Doch war es deiner Schönheit nicht gegeben
Als offner Tod aus deinem Jugendleben
Zu wachsen und sich selber zu benennen?

Walter Benjamin, geboren am 15. Juli 1892 in Berlin; gestorben am 26. September 1940 in Portbou, Spanien, Philosoph, Kulturkritiker und Übersetzer

1933 entzog er sich als säkularisierter Jude der NS-Herrschaft und ging ins Pariser Exil. Nach der Besetzung Frankreichs durch die deutschen Truppen nahm er sich auf einer missglückten Flucht in der spanischen Grenzstadt Portbou das Leben.

Walter Benjamins Sonette galten als verschollen. Erst 1981 wurden sie in der Pariser Nationalbibliothek aufgefunden. Benjamin hatte sie mit anderen ihm wichtigen Papieren vor seiner Flucht im Frühjahr 1940 Georges Bataille übergeben. 1986 erschienen sie in der Bibliothek Suhrkamp.

Das Bild ist von Hans Unger (1872 - 1936)

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