Man kann so tun. . .
Man kann mit unerhörter Energie sich in die Arbeit stürzen,
Denn Arbeit ist, wie jeder weiß,
Die beste Medizin.
Man kann mit ungeheuer klugen Mienen sprechen:
Es gibt wahrhaftig wichtigeres als ihn.
Man kann stundenlang Gespräche führen
Mit Leuten, die uns fremd sind und egal,
Man kann mit einem halben Dutzend Männern kokettieren,
Zuguterletzt ist alles peinlich und fatal.
Man kann den Mund an fremde Lippen pressen,
Man kann versuchen in den Armen eines andren zu vergessen.
Das Resultat ist leider bloß, dass man sich doch an ihn erinnern muss,
Denn nichts ist schlimmer für gebrochene Herzen,
als ein fremder Kuss.
Man kann sich selber auf die Schulter klopfen
Und zu sich sagen: „Na siehst du, Kind, es geht ganz gut,
Was kann uns schließlich viel passieren
Wenn wir nur etwas nicht verlieren
Und das ist der Verstand und noch ein bisschen Mut.“
Man kann so tun, als ob schon alles ganz in Ordnung wäre,
Nur eines stört, und das ist, dass man Nachts nicht schlafen kann,
Und dass man weinen muss, so schrecklich weinen,
Als gäb es auf der ganzen weiten Welt nur einen,
Nur den Einen!
Lili Grün, aus: Der Tag, Wien 16. Juni 1937
Einzelhaftpsychose
Ich weiß nicht mehr, wie meine Stimme klingt,
Ich glaub, ich habe seit Tagen nicht gesprochen.
Ob man sich etwas aus der Zeitung liest?
„In Neukölln hat einer seine Frau erstochen - -“
Ach nein, es ist schon besser, wenn man etwas singt.
Ich lege fest meine beiden Arme um mich
Und sage ins dunkle Zimmer: Ich liebe dich -
Weißt du, es war an einem Sonntagnachmittag wie heut,
Da war ich ganz allein - und ich tat mir so leid -
Doch jetzt ist alles gut, denn jetzt bist du da -
Und du bist so gut und du bist so nah. . .
Ich warte, ob drauf niemand was sagen will,
Aber im Zimmer ist´s immer noch still,
Und ich höre keinen.
Da leg ich meine beiden Hände vors Gesicht
Und kann endlich weinen. . .
Lili Grün, aus der Zeitschrift Das Leben, Oktober 1930, das Foto wurde dem Gedicht vorangestellt.
Lili Grün wurde am 3. Februar 1904 als Elisabeth Grün in Wien geboren. Nach dem Tod ihrer Eltern ging sie Ende der 1920er Jahre nach Berlin, wo sie 1931 zusammen mit Freundinnen und Freunden aus der Künstlerszene ein literarisch-politisches Kabarett eröffnete. Zurück in Wien verarbeitete sie ihre Berlin-Erlebnisse in ihrem Roman "Alles ist Jazz", der erstmals 1933 unter dem Titel "Herz über Bord" im Paul Zsolnay Verlag erschienen ist. Mit der nationalsozialistischen Okkupation Österreichs im März 1938 hatte Lili Grün als jüdische Schriftstellerin schlagartig keine Möglichkeit mehr zu publizieren. Verarmt und lungenkrank blieb ihr die Emigration ins rettende Ausland verwehrt. 1942 wurde sie aus Wien deportiert und am 1. Juni 1942 mit anderen Opfern, darunter die Dichterin Alma Johanna Koenig, im weißrussischen Vernichtungslager Maly Trostinec ermordet.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen