Ich werde morgen verraten, heute nicht
Ich werde morgen verraten, heute nicht.
Heute reißt mir die Nägel raus.
Ich werde nichts verraten.
Ihr kennt die Grenze meines Mutes nicht.
Ich kenn sie.
Ihr seid fünf harte Pranken mit Ringen.
Ihr habt Schuhe an den Füßen:
Mit Nägeln beschlagen.
Ich werde morgen verraten, heute nicht.
Morgen.
Ich brauch die Nacht, um mich zu entschließen,
Ich brauch wenigstens eine Nacht,
Um zu leugnen, abzuschwören, zu verraten.
Um meine Freunde zu verleugnen,
Um dem Brot und Wein abzuschwören,
Um das Leben zu verraten,
Um zu sterben.
Ich werde morgen verraten, heute nicht.
Die Feile ist unter der Kachel,
Die Feile ist nicht fürs Gitter,
Die Feile ist nicht für den Henker,
Die Feile ist für meine Pulsader.
Heute habe ich nichts zu sagen.
Ich werde morgen verraten.
Marianne Cohn, auch in: Frankreich meines Herzens. Die Résistance in Gedicht und Essay Hg. Irene Selle, Leipzig 1987
Marianne Cohn, geboren am 17. September 1922 in Mannheim, Freistaat Baden; ermordet am 8. Juli 1944 in Ville-la-Grand, Haute Savoie, Frankreich, Kinderfürsorgerin und Widerstandskämpferin. Sie studierte in München Nationalökonomie und war von 1914 bis 1916 mit Walter Benjamin verlobt gewesen. Bis zu seinem Todesjahr 1940 stand stand sie mit ihm in regelmäßigem Briefwechsel.
Am 31. Mai 1944 versuchte sie einen Transport von 32 jüdischen Kindern (zwischen drei und 19 Jahren) von Lyon – damals unter deutscher Besatzungsherrschaft – aus in die sichere Schweiz zu bringen. Auf diese Weise sollte die vorgesehene Deportation der Kinder in ein deutsches KZ (zum Zweck ihrer Tötung) verhindert werden. Kurz vor der Grenze scheiterte die Flucht. Cohn und die Kinder wurden ins Gefängnis gebracht. Der Bürgermeister Jean Deffaugt des Ortes Annemasse bot ihr an, ihr allein zur Flucht zu verhelfen, was sie ablehnte, um bei den Kindern zu bleiben. Schließlich wurden die Kinder gerettet, sie selbst aber bei der Befreiung des Ortes am 23. August 1944 tot unter einem Leichenhaufen gefunden. Mit ihr zusammen wurden am 8. Juli noch mehrere ebenso inhaftierte Widerstandskämpfer ermordet. (Wiki)
Das Foto zeigt sie im Juli 1944
Hier die französische Fassung des Gedichtes:
Aujourd'hui, arrachez-moi les ongles
Je ne trahirai pas !
Vous ne savez pas le bout de mon courage.
moi, je sais.
Vous êtes cinq mains dures avec des bagues.
Vous avez aux pieds des chaussures avec des clous.
Je trahirai demain. Pas aujourd'hui,
Demain.
Il me faut la nuit pour me résoudre.
Il ne me faut pas moins d'une nuit
Pour renier, pour abjurer, pour trahir.
Pour renier mes amis,
Pour abjurer le pain et le vin,
Pour trahir la vie,
pour mourir.
Je trahirai demain. pas aujourd'hui.
La lime est sous le carreau,
La lime n'est pas pour le bourreau,
La lime n'est pas pour le barreau,
Le lime est pour mon poignet.
Aujourd'hui, je n'ai rien à dire.
Je trahirai demain
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