Die Blumen im Eden
In den Bäumen vor dem Paradiese
Sitzen tausend blinde Seelchen harrend,
Bis das große Petrusthor sich knarrend
Öffnet zu der blumenreichen Wiese.
Sie sind blind, weil sie dereinst auf Erden
Vielzuviel gesucht in Näh'n und Fernen,
Und sie müssen hier einfältig werden,
Und sie sollen hier erst staunen lernen.
Denn die Blumen, die im Eden prangen,
Die sie jetzt mit seligen Augen schauen,
Sind die gleichen gelben, roten, blauen,
Denen sie einst blind vorbeigegangen.
Hugo Salus, aus: Reigen, München 1900
Erkannte Seele
Die tiefsten Lieder, die gelingen,
Halten ein Spieglein in der Hand,
Drein ist mit ihren bunten Schwingen
Des Dichters scheue Seele gebannt.
Die siehst du drin beben, die Flügel heben
Und schaust bewegter dem Spiele zu,
Bis deine staunenden Lippen beben:
»Du meine zitternde Seele du;
Gleich hab' ich dich an den bunten Schwingen
Als meine eigene Seele erkannt!« –
Die tiefsten Lieder, die gelingen,
Halten ein Spieglein in der Hand ...
Hugo Salus, aus: Die Blumenschale, Gedichte Albert Langen Verlag, München 1908
Hugo Salus, geboren am 3. August 1866 in Böhmisch-Leipa; gestorben am 4. Februar 1929 in Prag.
„Salus ist den meisten Lesern besser aus Beiträgen für die `Jugend` und andre Zeitschriften bekannt als aus seinen Gedichtsammlungen. Das ist schade, denn gerade seine schönsten Gedichte eignen sich nicht für Zeitschriften, und die sich dafür eignen, verzerren sein dichterisches Bild. Er ist ein Sänger und ein Bildner, und die Beimischung des goldigen Humors gibt keinen schlechten Dreiklang. . .“
Karl Kraus
Das Bild ist von Odilon Redon (1840 - 1916)
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