Schneemorgen
Der Schnee, der zu Morgen die Stadt befiel, war
wie eine schauernde Erinnerung der vergang-
nen Nacht:
Goldene Sternpailletten, bunte Karnevalsbänder,
rote Liebesblumen: erblaßt war all die Pracht.
Aber die Stadt lag da wie ein geschliffener Dia-
mant; das siebenfarbige Licht brach sich von
allen Flächen los.
Die Plätze schüttelten die schattengrünen Domi-
nos.
Die Straßen, orangehell unter den triefenden La-
ternen, krümmten sich wie trockene Schalen.
Steinrunzlige Kirchen funkelten im Purpur der
Morgenstrahlen.
Blaue Vergißmeinnicht blühten in erwachenden
Fenstern auf.
Die Reiterstaue trug Schneesilber auf Pallasch
Mantel und Knauf.
Die ersten Menschen, die das sahen, glaubten in
ein gläsernes Paradies zu treten.
Schnee schluchzte in die Stadt wie ein stummes
Seufzen, ein inneres Beten.
Es stäubte inniges, sinniges Leid
Über die harte Wesenheit.
Wie schmerzliches Lächeln, wie eine geschminkte
Pierrotmaske lag der Schnee,
Wie ein trostlos trauriges Weh,
Ein müder Schnee,
Ein gütiger Schnee,
Ein grüblerisches Sinnen und Spinnen:
Gedanken über ein Totenlinnen.
Iwan (Yvan) Goll (1891 - 1950), aus: Die Aktion, Wochenschrift für Politik, Literatur, Kunst 1917. Als Pazifist vor dem Wehrdienst fliehend, emigrierte er zu Beginn des Ersten Weltkrieges 1914 in die Schweiz, wo er in Zürich, Lausanne und Ascona lebte.
Das Bild „Winter“ ist von Mikalojus Konstantinas Čiurlionis (1875 - 1911)
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