Donnerstag, 9. Februar 2023

Iwan Goll: Schneemorgen

 


Schneemorgen

Der Schnee, der zu Morgen die Stadt befiel, war
      wie eine schauernde Erinnerung der vergang-
      nen Nacht:
Goldene Sternpailletten, bunte Karnevalsbänder,
      rote Liebesblumen: erblaßt war all die Pracht.
Aber die Stadt lag da wie ein geschliffener Dia-
      mant; das siebenfarbige Licht brach sich von
      allen Flächen los.
Die Plätze schüttelten die schattengrünen Domi-
      nos.
Die Straßen, orangehell unter den triefenden La-
      ternen, krümmten sich wie trockene Schalen.
Steinrunzlige Kirchen funkelten im Purpur der
      Morgenstrahlen.
Blaue Vergißmeinnicht blühten in erwachenden
      Fenstern auf.
Die Reiterstaue trug Schneesilber auf Pallasch
      Mantel und Knauf.

Die ersten Menschen, die das sahen, glaubten in
      ein gläsernes Paradies zu treten.
Schnee schluchzte in die Stadt wie ein stummes
      Seufzen, ein inneres Beten.
Es stäubte inniges, sinniges Leid
Über die harte Wesenheit.
Wie schmerzliches Lächeln, wie eine geschminkte
      Pierrotmaske lag der Schnee,
Wie ein trostlos trauriges Weh,
Ein müder Schnee,
Ein gütiger Schnee,
Ein grüblerisches Sinnen und Spinnen:
Gedanken über ein Totenlinnen.

Iwan (Yvan) Goll (1891 - 1950), aus: Die Aktion, Wochenschrift für Politik, Literatur, Kunst 1917. Als Pazifist vor dem Wehrdienst fliehend, emigrierte er zu Beginn des Ersten Weltkrieges 1914 in die Schweiz, wo er in Zürich, Lausanne und Ascona lebte.

Das Bild „Winter“ ist von Mikalojus Konstantinas Čiurlionis (1875 - 1911)

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen