Sonntag, 26. Februar 2023

Iwan Goll: Messe für die Dichter / Die Flucht nach Lesbos / Reise ins Elend

 


Messe für die Dichter

Himmlisch geboren,
Knieen sie ihren Schmerz in die Erde:
Orphisches Opfer war ihre Losung.

Güte, o Güte
Schlummert wie Schnee
Um ihre ruhig offene Lippe.

Todeslächeln tropft um ihr Wolfsherz.
Sonnige Fackel
Qualmt ihr Gesang in den freienden Wind.

O ihre Seelen,
Herbe, halbgeöffnete Knospen
Morgenschimmernden Mandelbaums,

Fallen von den gebrochenen Zweigen,
Schlagen wie Sterne
In unsre Nacht.

Iwan Goll, aus: Requiem für die Gefallenen von Europa, Kommissionsverlag von Rascher & Cie, Zürich – Leipzig 1917

Die Flucht nach Lesbos

Gold
War gerollt In der Nacht,
Und beide, Clo und Gynn,
Tänzerin und Tänzerin,
Hatten getollt und hatten gelacht.

Aber morgens, von den Fräcken verlassen,
Fanden ihre blassen
Hände sich . . .
Morgen weinten Clo und Gynn,
Und sie flohen, Tauben im Winde,
Bis zur seligen Insel hin.

Und ihr nachtschwarzes Tanzgewand
Flatterte mit der Nacht über Land,
Dass sie nun standen wie rosa Wolken,
Dass sie Hände hielten wie Möwen,
Dass sie Hüften bauschten wie Wellen,
Dass sie Füsse trugen wie Muscheln,
Dass sie stiegen, morgengross,
Schoss an Schoss.

Yvan Goll, aus: Films (Verse), Verlag der expressionistischen Gedichte, Berlin Charlottenburg 1914

Reise ins Elend

Wie aber schmerzt die Menscheneinsamkeit,
wenn Landschaften mit gleichem Leid wie du sich von dir wenden
und in sich selbst versinken, dir so fremd!
Wenn klein ein Bahnhof dich in kalten Regen stößt,
ein Güterwagen leer und ohne Zukunft dich anbettelt.
Da kriecht ein fahler Gaul auf dunklem Acker,
oh, wenn der wüßte, daß du existierst
und du ihn liebst, ihm würden Flügel blau zum Himmel wachsen.
Manchmal schaut Wasser auf zu dir mit großen Augen,
und weil es nicht dein Lächeln sah,
fällt freudlos es und schal in sich zurück.
So läßt du alles dort allein. Es reißt dein Schicksal dich dahin.
Die alte Bucklige am Damm wird ewig nach dir blicken,
untröstlich steht das schreiende Plakat am schiefen Giebel.
So läßt du alles dort allein in unerfüllter Liebesdemut
und weißt es doch, daß, Einsamer, dich eine Stadt erwartet,
in der du weinen wirst die lange Nacht im billigen Hotel.

Aus der Anthologie Lyrik des expressionistischen Jahrzehnts, DTV, 1962

Iwan Goll, auch Yvan Goll, geboren am 29. März 1891 in Saint-Dié, Frankreich, gestorben am 27. Februar 1950 in Paris, „hat keine Heimat: durch Schicksal Jude, durch Zufall in Frankreich geboren, durch ein Stempelpapier als Deutscher bezeichnet.

"Iwan Goll hat kein Alter: seine Kindheit wurde von entbluteten Greisen aufgesogen. Den Jüngling meuchelte der Kriegsgott. Aber um ein Mensch zu werden, wie vieler Leben bedarf es. Einsam und gut nach der Weise der schweigenden Bäume und des stummen Gesteins: da wäre er dem irdischen am fernsten und der Kunst am nächsten“. (Iwan Goll über sich selbst)

Das Besondere in Leben und Werk dieses Schriftstellers wird in seinen Gedichten, Dramen, Romanen und publizistischen Arbeiten deutlich: aus ihnen spricht die Tragik eines Daseins, das sich nicht erfüllt hat und nicht erfüllen konnte. Zwar gelang es Goll immer wieder, den Anschluss an die bewegenden künstlerischen Strömungen seiner Zeit zu finden, doch wurde er nie zu den ganz „Großen“ gezählt.“

aus: Ausgewählte Gedichte, Verlag Philipp Reclam jun. Leipzig, Klappentext, 1982

Verheiratet war Iwan Goll mit der Dichterin Claire Goll, geboren als Klara Aischmann (1890 - 1977)

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