Verlorenes Lied
Ich bin arm und habe nichts.
Nichts! Garnichts!
Nichts als lange Haare -
Bin zweiundzwanzig Jahre -
Sind rotes Gold, meine Haare,
Sagen die Kaufleut' mir.
Ich bin arm und habe nichts.
Nichts! Garnichts!
Nichts als gemalte Brauen -
Fluch den ehrbaren Frauen! -
Sind tintenschwarz, meine Brauen,
Sagen die Schreiber mir.
Ich bin arm und habe nichts.
Nichts! Garnichts!
Nichts als kecke Blicke -
Weißt du, wem ich sie schicke? -
Sind scharfes Schrot, meine Blicke,
Sagen die Jäger mir.
Ich bin arm und habe nichts.
Nichts! Garnichts!
Nichts als reife Lippen -
Tugend fährt über Klippen -
Sind kirschensüß, meine Lippen,
Sagen die Gärtner mir.
Ich bin arm und habe nichts.
Nichts! Garnichts!
Nichts als geschmeidige Sohlen -
Ei, in der Schenke das Johlen! -
Sind zum Tanzen gemacht, meine Sohlen,
Sagen die Spielleut' mir.
Ich bin arm und habe nichts.
Nichts! Garnichts!
Nichts als weiße Glieder -
Blankes Gold lockert mein Mieder -
Sind Flammen der Lust, meine Glieder,
Sagst heute nacht du mir.
Ich bin arm und habe nichts.
Nichts! Garnichts!
Nichts als ein Leben in Schande,
Einen Tod am Straßenrande -
Einst in zerlumptem Gewande
Scharrt man mich ein im Sande.
Wo? Sagt keiner mir.
Ich bin arm und habe nichts.
Nichts! Garnichts!
Nichts als die heimliche Zähre -
Daß ich so arm nicht wäre! -
Nur meine Dirnenehre!
Vom Strauch fällt die tausendste Beere;
Fault sie, wer sucht nach ihr?
Sterb' ich, wer weint nach mir?
Gertrud Kolmar, aus: Gedichte, Egon Fleischel & Co Verlag, Berlin 1917
Die Schlangenspielerin (2)
Tanze, tanze, bunte Schlange!
Mit geschärftem Beckenklange
Soll ein junges Kind beschwören,
Die dich ehren, dir gehören.
Tanze, tanze, bunte Schlange!
Schwarzes Pfeifchen, sei nicht bange:
Zauber ihrer Sternensteine
Wächst so groß nicht wie der deine.
Tanze, tanze, bunte Schlange!
Einem schweigenden Gesange
Ward der schmale Leib erschaffen,
Fremd dem Tiger, fern den Affen.
Tanze, tanze, bunte Schlange!
Brich die Nadel, Bronzespange,
Die um Menschenseelen, Flammen,
Dunklen Vorhang zerrt zusammen.
Tanze, tanze, bunte Schlange!
Quillst du doch an Gottes Wange;
Der dich liebte mit den Bösen,
Tanzend, wird er dich erlösen.
Tanze, tanze, bunte Schlange!
Gertrud Kolmar, aus: 49 Gedichte in 4 Räumen, geschrieben um 1933, posthum veröffentlicht
Gertrud Kolmar (Pseudonym für Gertrud Käthe Chodziesner, geboren am 10. Dezember 1894 in Berlin. Ab Ende der 1920er-Jahre erschienen einzelne ihrer Gedichte in literarischen Zeitschriften und Anthologien. 1934 wurde ihr zweiter Gedichtband Preußische Wappen im Verlag Die Rabenpresse von Victor Otto Stomps publiziert. Diese Veröffentlichung brachte den Verlag auf eine Liste unerwünschter Verlage des Börsenvereins des deutschen Buchhandels, von dem er dann boykottiert wurde. Kolmar durfte ab 1936 nicht mehr unter ihrem Künstlernamen publizieren, sondern nur noch unter ihrem Familiennamen Chodziesner.
Ihr dritter Gedichtband Die Frau und die Tiere, der im August 1938 im Verlag Erwin Löwe erschien, wurde nach der Reichspogromnacht vom 9. November 1938 in Zusammenhang mit der Auflösung der jüdischen Buchverlage verramscht.
Ab Juli 1941 musste Gertrud Kolmar Zwangsarbeit in der Rüstungsindustrie leisten. Ihr Vater wurde im September 1942 in das Ghetto Theresienstadt deportiert und starb dort im Februar 1943. Gertrud Kolmar wurde am 27. Februar 1943 verhaftet und am 2. März 1943 im
32. sogenannten Osttransport des RSHA in das Konzentrationslager Auschwitz deportiert. Von den etwa 1500 Berliner Jüdinnen und Juden, die in diesem Zug am 3. März 1943 in Auschwitz ankamen, wurden nach der Selektion an der 'Alten Rampe' 535 Männer und 145 Frauen als „arbeitsfähige“ Häftlinge registriert und in das Lager eingewiesen. Die übrigen etwa 820 Deportierten dieses Zuges, darunter Gertrud Kolmar, wurden nicht als Häftlinge registriert und vermutlich sofort nach der Ankunft in der Gaskammer ermordet. (Wiki)
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