Donnerstag, 30. März 2023

Christian Morgenstern: Die Weide am Bache

 



Die Weide am Bache


Weißt Du noch, Phanta,
Wie wir jüngst
Eine Nyade,
Eine der tausend Göttinnen der Nacht,
Bei ihrem Abendwerk
Belauschten?

Einer Weide
Half sie, sorglich
Wie eine Mutter,
In´s Nachthemd,
Das sie zuvor
Aus den Nebel-Linnen des Bachs
Kunstvoll gefertigt.
Ungeschickt
Streckte der Baum die Arme aus,
Hineinzukriechen
In´s Schlafgewand.
Da warf es die Nymphe
Lächelnd ihm über den Kopf,
Zog es herab,
Strich es ihm glatt an den Leib,
Knöpfte an Hals und Händen
Es ordentlich zu
Und eilte weiter.

Die Weide aber,
In ihrem Nachtkleid
Sah ganz stolz
Empor zu Luna.
Und Luna lächelte,
Und der Bach murmelte,
Und wir beide,
Wir fanden wieder einmal
Die Welt sehr lustig.

Christian Morgenstern, geboren am 6. 5. 1871 in München, gestorben am 31. 3. 1914 in Untermais, Tirol, aus: In Phanta´s Schloss, Berlin Schuster und Löfffler, 1891, seinem ersten veröffentlichten Gedichtband.

Das Bild ist von Nikolai Astrup (1880 - 1928)

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