Blumenlegende
Und war der dritte Tag, da Gott die Welt erschuf'
sich seiner Einsamkeiten zu begeben.
In tiefe Heimat bettend so sein Leben
erging von Tag zu Tag sein Schöpferruf.
Er ward im Licht, er auferstand im Land,
und aus den Wassern sah er sich entgegen.
Wie war sein Spiegelbild ihm milder Segen.
Und um ihn stürzte leise Wand an Wand.
Und als er sich zum dritten Male rief,
hob er sich leis aus hohem Lilienstengel.
Unendlich sank er hin, sich zugewendet.
Wie schauten deine Gottesaugen tief -
Aus jeder Blume tönte dir der Engel -
Du wusstest nicht, wie tief du dich vollendet.
An den Mond
Die mit ihrem Strahle mich geblendet,
hohe Sonne, ist hinweggegangen.
Aber ewig ist das Lichtverlangen.
Auge seinen Blick ins Dunkel sendet.
Meine Seele will empfangen.
Nun erhellt sich sanft mein dunkles Wesen,
wie dein leuchten auf mich niederbricht.
Kann in meinem eigenen Herzen lesen.
Am gedämpftern Quell mag ich genesen.
Heiter trink ich deiner Schale Licht.
Aus: Karl Stamm, Der Aufbruch des Herzens, Rascher, Zürich, 1. Auflage 1919
Karl Stamm, geboren am 29. März 1890 in Wädenswil, Kanton Zürich; gestorben am 21. März 1919 in Zürich, Schweizer Lyriker.
Das Bild ist von Odilon Redon (1840 - 1916)
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