In Sils
Manchmal möchte ich mit der Hand nach meinem Herzen greifen.
Ob es noch schlägt und das gleiche ist.
Es schlägt langsam wie im Traum.
Die Schläfen beben, der Atem müht sich
Und die Brust ist so klein geworden, so schmächtig,
Damit ihre Enge dies bißchen Leben und Bewegung nicht störe,
Um das wir kämpfen müssen.
Die Bilder sagen, es sei wie das zu schwache Licht einer Kerze.
Aber plötzlich spüre ich dann, wie es emporschlagen
Und übermächtig werden könnte,
Und eine Geisterhelle verbreiten, die still und fürchterlich ist.
Ich denke an das gesprengte Rund der Bergspitzen,
Die uns mit ihrem Leuchten und ihrer Bläue gnädig waren,
Und ich denke an die Lieblichkeit des Baches,
Der in der Mittagshitze, zur Erntezeit
So viel über silberne Steine rieselnde Kühlung verbreitete,
Und an die Schwemme,
Wo abends die goldenen Pferde standen und ihre Mähnen schüttelten.
Und an die Wüste.
Aber wenn ich in der Nacht wach werde, und mein Blick aus dem Dunkel,
In der bleischweren Luft schwebend, blind und wie vernichtet ist,
Und wenn dann dieses Weben ringsum beginnt,
Wenn meine Hände schlaff und meine Füße weit sind,
Und ich mir nicht mehr gehöre,
Und allein das einsam schlagende Herz
Wie der Kindheit Brunnen rauscht,
Und ich immer noch in solcher Heimsuchung lauschen muß,
Dann erhebt sich das Sterben über den Zauberrand
Der jetzt in tiefem Schlaf liegenden Welt,
Und ich bin nicht mehr.
Annemarie Schwarzenbach, geboren am 23. Mai 1908 in Zürich; gestorben am 15. November 1942 in Sils im Engadin an den Folgen eines Fahrradunfalles, war Schriftstellerin, Journalistin und Reisende.
Erste journalistische Veröffentlichungen sowie literarische Texte entstanden noch während ihrer Studienzeit. Kurz nach Abschluss ihres Studiums debütierte sie mit dem Roman Freunde um Bernhard. Im Jahr 1931 hielt sie sich öfter in Berlin auf und stand in engem Kontakt mit Klaus und Erika Mann in München.
Sie führte nach 1933 selbst teilweise das Leben einer Migrantin und reiste mehrere Jahre hintereinander in verschiedene Länder, öfter zusammen mit Klaus Mann, dessen literarische Exilzeitschrift Die Sammlung sie finanziell unterstützte. 1933 begab sich Annemarie Schwarzenbach gemeinsam mit der Fotografin Marianne Breslauer auf eine erste journalistische Reise nach Spanien. Im gleichen Jahr führte sie der Weg nach Persien.
Gemeinsam mit der Schweizer Schriftstellerin Ella Maillart reiste sie Juni 1939 in einem Ford V8 91A Deluxe über Istanbul, Trabzon und Teheran überland nach Afghanistan.
Traumgesicht
Du hat so lange mich im Traum gemieden,
Du früh Verblichne. Heute warst Du da,
So jung, so unzerstört, so seltsam nah,
Wie damals, als zum ersten Mal wir schieden.
Wie loderten in jener Nacht die Sterne,
Wie schien die Welt voll Glück! Wie lang ists her!
Wie wurden Dir die jungen Jahre schwer!
Wie trieb es mich hinaus in alle Ferne!
Nun prüfst Du mich im Traum. Es ist kein Schmerz
Und keine Trauer mehr in mir gewesen —
Du nickst und flüsterst: Bist Du nun genesen —
Ich liege still. In Ruhe schlägt mein Herz.
Geblieben ist ein Dank. Der Dank soll ziehn
Hinauf — zu Deinem Grab — ins Engadin...
Albrecht Haushofer (1903 - 1945), aus: Die Moabiter Sonette
Die «früh Verblichne»: die hochbegabte sensible Schweizer Publizistin und Journalistin Annemarie Schwarzenbach, Freundin von Klaus und Erika Mann, die 1942 im Alter von 34 Jahren nach langer Drogenabhängigkeit an den Folgen eines Unfalls starb. Haushofer lernte sie 1923 in der Schweiz kennen. « In [Berlin-Frohnau], wo Annemarie weiterhin gelegentlich zu Besuch ist, trifft sie Ulrich von Hassell und Albrecht Haushofer. (. . .) Haushofer ist sehr verliebt in Annemarie. Anfang der 30er-Jahre macht er ihr sogar einen Heiratsantrag. Annemarie lehnt ab, bleibt aber mit ihm befreundet.» (Arti Georgiadou, Annemarie Schwarzenbach; eine Biographie. Frankfurt a. M. 1996. In der dtv-Ausgabe S. 101.), zitiert nach maluca, lyriktranslate, 2. 3. 2022
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