Donnerstag, 26. Januar 2023

Julia Virginia: Johannisnacht

 


Johannisnacht

Es fallen viel Küsse vom Himmel,
Viel heimliche Küsse heut nacht.
Wirr flimmert das Sternengewimmel
In seltsamer Pracht.

Des Mondes volle Leuchte
Hängt gross am Himmelszelt.
Seiner tauigen Strahlen Feuchte
Trinkt rings die Welt.

Leuchtende Käfer stieben.
Und der Grillen zärtlicher Chor
Zirpt sehnend sein Lied. – Altes Lieben
Steigt mir empor.

Wünsche, lange getragen
In des Herzens tiefstem Gemüt;
Gestalten zur Höhe sich wagen,
Für die ich geglüht.

Geglüht. – Und doch immer vergebens
Vergebens geglüht und geliebt. –
Wo bist du, der mir des Lebens
Fülle gibt? – –

Aus: Sturm und Stern - Gedichte von Julia Virginia
Verlegt bei Schuster & Loeffler
Berlin und Leipzig 1905

Julia Virginia ist das Pseudonym von Julie Virginie Scheuermann, geboren am 1. April 1878, gestorben am 23. Aprll 1942, Lyrikerin, Malerin, Übersetzerin und Autorin zum Thema Frauenliteratur. Unter Ihrem Künstlernamen publizierte sie eine Reihe von Bänden mit eigenen Gedichten. Sie übersetzte u. a. Gedichte und den Roman Der Künstler des ukrainischen Dichters Taras Schewtschenko ins Deutsche sowie Tagebuchnotizen und den Briefwechsel der russischen Malerin Marie Bashkirtseff mit dem französischen Schriftsteller Guy de Maupassant. Sie edierte die Gedichte von Annette von Droste-Hülshoff und veröffentlichte eine damals viel beachtete Anthologie über zeitgenössische deutsche Frauenlyrik.

Das Bild ist von Franz von Lenbach (1836 - 1904): Julie Virginie Scheuermann als Bacchantin, 1903

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