Donnerstag, 26. Januar 2023

Emmy Hennings: Schwester

 



Schwester

Es gab eine Zeit, da liefen wir verkappt durch die Straßen.
Versuchte man zu glauben unseren falschen Locken?
Wem machten wir Konzessionen, wenn wir mit hohen
Absätzen durch die Glühlichtnächte stelzten?
Die Männer, unsere entblößten Schultern betrachtend,
wurden gerührt oder frech.
Die Gleichgültigkeit der Männer traf uns gleich einem Dolchstoß
Mitten ins Herz,
Wenn wir verhüllte Lieder sangen: Kann ich dafür, daß ich so bin? -
Die ehrbare Gattin incognito lächelte vielsagend und eindeutig
Ihrem Galan zu.
Und flüsternd hinter den Kulissen, träumten Schwestern wir:
Das Kind der Gattin im Himmelbett.
Oh, unerreichbare, unbegreifliche Mutter. . .
Die mitgenommene Frau im Publikum
Zog sich angewidert und selig in ihren weichen Pelz zurück.
Und immer freigiebiger wurden wir,
Und lieferten lachend Schultern und Schenkel.
Das lachende Gesicht weinte:
Es zieht mich stets zum Manne hin. . .
Und zitternd für das blutarme Kindlein im Waisenhause
Schlugen wir den Saltomortale -
Es rauschte der Vorhang! -

Oh, Schwester, all unsre höfliche Kunst schien bei den Blasierten
Umsonst, verfehlt.
Besiegt sahen wir auf unsere Lackschuhspitzen.
- Oh, unsere durchsichtigen Strümpfe - sie waren so
durchsichtig und billig.
Wer merkte den zierlichen Kniff, wer war so willig?
Versottene Kavaliere mit versottenen Witzen.

Und weinten wir uns im Morgengrauen die geschminkten
Larven vom Gesicht,
Entblätterten wir uns,
Sanken uns die bunten Seidenfahnen von den Lenden,
Standen nackt wir weinend am Fenster,
Oh, Sehnsucht mit erhobenen Händen,
Fielen verstört wir ins Bett -
Doch wir schliefen nicht.
Und in durchtanzten Nächten, verschlafenen Tagen
Vergaßen wir das Sonnenlicht.
So ging das Leben an uns vorbei:
Rausch und Sang, Tag und Nacht, und Einerlei.

Und von allen, die du geliebt und geneppt,
Schwesterlein, wer hat dein verschüttetes Herz wohl entdeckt?
Wer sah dein unsichtbares Leid
Unter deinem Flitter- Panzerkleid?

Schwester, ich kenne die Angst, die dir aus den Augen springt,
Wenn du dir eines Tages zurufen wirst:
Ich hasse vergebens!
Ich kenne die grelle Flackerangst:
Ich liebte vergebens!
Dies ist die Stunde, in der du nicht einschlafen darfst.
Du bist nicht müde, nie warst du lebendiger.
Ich reiße dich zu mir!
Du darfst nicht sterben, bevor ich dir gesagt habe:
Es war nicht vergebens.
Wenn ich dir alles gesagt habe, wirst du den Schlaf
Vergessen haben, und du wirst leben, oh, so viel Leben!
Du bist am anderen Ufer
Und hinter dir stürzt die Brücke ein.
Sodom und Gomorrha verbrennen.
Was gewesen, war Gang über die gefährliche Brücke.
Vergiss nicht:
Wir kennen doch Wege und Umwege,
Aber den Ausweg, Schwester, kennen wir nicht.
Vergiss nie, daß es keinen Ausweg gibt.
Ein Irrgarten ist unser Leben mit vielen Spiegeln.
Sieh dein Spiegelbild, und denke nicht, es sei eine andere.
Sieh in den treuen Spiegel deiner Seele, und wirf das Katzengold von dir.
Sieh in den Spiegel, und du wirst mit jedem Tag
ein Stückchen Schimmer ablegen.
Und eines Tages wirst du sein:
Die enthronte Königin.
Die Schleppe deines Königsmantels fegte durch den Gassenkot.

Die Begierde des Mannes hat deine Herrlichkeit verbrannt.
Und wirst du rufen: Wo ist meine Macht?
Ich bin die Königin der Freude?!
Oh, Schwester, die Freude starb, und dein Reich ging dir
Verloren.
Deine Nachtschattenaugen irren suchend durch die großen Städte.
Die Städte sind leer - du wirst niemanden finden.
Und am späten Abend wirst du dich an eine Mauer lehnen
Du wirst sagen: Meine Welt ist gestorben.
Und die letzte Sehnsucht nach falschem Glück
Wird dir entgleiten wie dir dein roter Seidenmantel
Von den Schultern fällt.

Wenn dir die letzte Illusion entschwindet:
Die neue Welt liegt neu vor deinen Augen.
Die Jungfräulichkeit der Dinge sei dir Sehnsucht.
Schwester, der Anfang liegt in dir.
Das A und O.
Dem immer wiederkehrenden Anfang gilt all unser Streben!
Wir sind bereit, zu jeder Stunde neu beginnen!
Wir leben und sterben in einem Atemzug!
Das immerwährende Streben nach dem Gelöstsein!
Schweben
Zwischen Tod und Leben!
Bereit sind wir, zu fliegen in die Höhe,
Bereit sind wir, zu stürzen in die Tiefe.
Leben und Tod sind Eines.
Wir kennen nur noch eine Mischung:
Der Tod vermischt sich mit dem Leben.
Wir sind ewig auf dem Sprunge.
Wir stehen auf der Barrikade unseres Herzens!
Wir haben alles empfangen: wir sind bereit, alles zu geben.
Wir verschwenden uns.
Schwester, dein Herz in den Händen schleudere es in ein
Flammenmeer!
Wir werfen unsere Unendlichkeit der kleinen Erde zu.
Die graziöseste Verneigung vom höchsten Podium.
Schwester, so unberechenbar bist du in deiner Liebe!
Tollkühn und waghalsig sind wir:
Der Salto Mortale ist unser Beruf.
Geheiligt und wild wagen wir das letzte Abenteuer.

Was warten wir auf den letzten Sprung?
Nichts hält uns mehr.
Frei sind wir und kennen keine Hindernisse.
Ein Anlauf!
Das Sprungbrett wankt!
O Schwester! Du!
So himmelhoch springt mein Leben,
stürzt mein Verlangen,
Dir, Erde, zu!
Am ersten, am goldenen Morgen
Begrüßen wir die jüngste Erde!
Weihen wir der geheiligten Erde den Morgengruß!
Der Regenbogen der Versöhnung leuchtet in den Wolken.

Emmy Hennings (1885  -  1948) (Ascona 1917, nicht veröffentlicht), Aus: Emmy Hennings Dada, 

Hg. Nicola Behrmann, Christa Baumberger. Zürich 2015.


Niemals hat die Dichterin auf der Sonnenseite gelebt und es leicht gehabt, vielleicht hat sie es auch niemals ernstlich sich gewünscht. Sie lebt lieber unter den Kämpfenden, Armen, Bedrückten, sie liebt die Leidenden, sie fühlt für die Verfolgten und Rechtlosen. Sie bejaht das Leben auch in seiner Härte und Grausamkeit und liebt die Menschen bis in alle Verirrung und Not hinein.“ Hermann Hesse über Emmy Hennings

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