Das vierte Abendlied
Unendliche Stille! Der Himmel wölbt.
Wolken hangen uns in die Stirn.
Süß reift im Ost des Mondes Frucht.
Baum blüht reglos in die Nacht.
Der Frösche Schrei, der Fledermaus Flug
Und der Käfer sanfte Musik
Gießt unsre Herzen hinaus.
Trunken in solchem Abend
Wehen an Horizonten wir hin.
Golden leuchtet die Hand im Raum.
Nacht schenkt unendlichen Traum!
Fliegende Erde, wachsender Wald:
alles sind wir! . . . Du bist ich!
Das fünfte Abendlied
In des Abends samtnen Hafen
lenken hin die Häuser-Schiffe.
Siehe! Mond und Sterne trafen
sich in unsrer Stirnen Spiegel!
Wiese breitete die Schwingen,
Wald hob auf den dunklen Flügel.
Leise Wege um uns singen.
Unser Herz in nahen Gärten
leuchtete. Der Nacht Syringen
schlingen sich um uns, die warten -
warten, daß sich uns die Räume
füllen mit verwehten, zarten
Farben unsrer wachen Träume,
die sich magisch offenbarten.
Das sechste Abendlied
Wie wir in die Wiesen sinken,
segelt Mond, das ferne Schiff,
leise um des Waldes dunkles Riff.
Von der Stirn dir will ich trinken
Abendschein, der dich betaut,
und den nahen Himmel, der
unermeßlich tief erblaut.
Leise regt sich das Geflüster
naher Sterne. Milde wandern
Wolken, die im Osten landen.
Schwinden wir? . . . Schon düster
schwingt sich Weg den Bergen zu.
Bist du hier? . . . Am Horizont
stehst in Firmamenten du!
Heimkehr
An meiner Nächte Horizonten mächtig kreisend,
magnetisch düster von den Wolken hangend:
- da bist du wieder, große Stadt! Du wehe Mutter!
die Straßen, die mein Schluchzen jäh umfah,
thronende Giebel, von der Hochbahn Pfeil
zerfetzt: sie sind! und sind mir immer da!
So nimm mich auf, gigantisches Gemach!
An deinen Wänden spül ich wirbelnd hin.
(Von heulender Kuppel dröhnet neu der Sonne Explosion!)
Brausende Nächte! Mystisches Revier!
Da torkeln Menschen, und die Stadtbahn zischt
in mein Gedicht. Gleisdreieck schwebt empor
und wirft ich in der roten Kirchen Tanz
und Schwall von Menschen (Zappel-Puppen viel)
und bleichen Schiffen, die im schwarzen Flusse faulen.
Berlin! Berlin! Heimat du aller Wege!
Du aller Fahrten Ziel! Du hohe See!
Du bittrer Schoß umschließest schweigend mich. . .
Walter Rheiner, aus: Insel der Seligen - Ein Abendlied 1918
Walter Rheiner, eigentlich Walter Heinrich Schnorrenberg, geboren am 18. März 1895 in Köln; gestorben am 12. Juni 1925 in Berlin-Charlottenburg), Schriftsteller des Expressionismus.
Als er 1914 zum Kriegsdienst berufen wurde, nahm Walther Rheiner erstmals Rauschmittel – er gab damit vor, drogensüchtig zu sein, um der Wehrpflicht zu entgehen. Trotz dieses Umstands wurde er eingezogen und mit Beginn des Ersten Weltkrieges an die russische Front beordert. Eine Entziehungskur scheiterte, sein Täuschungsversuch kam 1917 ans Licht, worauf er vom Dienst suspendiert wurde und nach Berlin übersiedelte. Aus seinem anfänglich gemäßigten Drogenkonsum entwickelte sich jedoch mehr und mehr eine Sucht nach Kokain und Morphinen, die ihm letztendlich zum Verhängnis wurde. In einer armseligen Unterkunft in der Charlottenburger Kantstraße setzte er seinem Leben am 12. Juni 1925 im Alter von 30 Jahren mit einer Überdosis Morphin selbst ein Ende.
Das Bild „Der Tod des Dichters Walther Rheiner" ist von Conrad Felixmüller (1897 - 1977)
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