Donnerstag, 26. Januar 2023

Nikolai Maximowitsch Minski: Eine Vision

 


Eine Vision

Am müden Himmel sah ich ein Gesicht,
Wie drei Gestirne miteinander rangen:
Die Sonne sank, der Mond war aufgegangen,
Der Abendstern ergoss sein bleiches Licht.

Es hielten alle drei das Gleichgewicht.
Schon wollte sie die blinde Nacht umfangen,
Da sah ein Weib ich nach den Sternen langen,
Ein Weib, dem Grab entsteigen zum Gericht.

Ich sah das Weib sich in den Himmel recken
Und mit den Armen Stern und Mond bedecken;
Ihr Atem löschte aus der Sonne Licht.

Doch statt des Monds, des Sternes und der Sonne,
Erstrahlte mild ihr holdes Angesicht:
Es gab dem Weltall Wärme, Licht und Wonne!

Aus: Russische Lyrik der Gegenwart
Deutsch von Alexander Eliasberg (1878 – 1924)
Mit einer Einleitung und vier Bildnissen
München und Leipzig R. Piper & Co Verlag 1907 (S. 111)

Nikolai Maximowitsch Minski (russisch Никола́й Макси́мович Ми́нский, eigentlich Nikolai Maximowitsch Wilenkin; * 15. Januar./ 27. Januar 1855 in Hlybokaje, Weißrussland; † 2. Juli 1937 in Paris) war ein mystischer Schriftsteller und Dichter des Silbernen Zeitalters der Russischen Literatur.

Das Bild "Night" ist von Edward Burne-Jones (1833 - 1898) 

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