Mittwoch, 25. Januar 2023

Hermann Plagge: Vorstadtabend

 


Vorstadtabend

An jedem Abend steigt die Riesenwelle
der Lichtflut auf und wirft die Blinkerkämme
rauschend gegen die nachtgefugten Dämme
der Dunkelheit und droht mit großer Helle.

Bisweilen flieht in das gedehnte Land
ein Stadtbahnzug, der atemlos sich rettet
und Baum an Baum mit seinem Licht verkettet,
und ferne schmal wird wie ein Ordensband.

Die Nacht wächst blau herauf an allen Enden.
Die Sterne frieren, hoch und dünn gestrählt,
Orion, gierig, mit den goldenen Händen

hascht nach dem Mond, der unten sich gequält
heraufwürgt aus der Weltstadt Riesenlenden
wie eine Frucht, groß, blank und abgeschält.

Hermann Plagge, aus: Die Aktion, 20. Juni 1914

Hermann Plagge, geboren am 11.6.1888 in Weener (Ostfriesland), gestorben am 16.9.1918 in Mainz, 1910 beginnt er seine schriftstellerische Laufbahn mit Rezensionen und Aufsätzen, die in "Hannoverland", "Das Land" und der "Weser-Zeitung" erscheinen und zunächst vornehmlich regionalen Bezug haben. Dann bespricht er aber auch die expressionistischen Neuerscheinungen (Arno Holz, Paul Zech, Paul Boldt, Max Pulver). In Berlin macht er die Bekanntschaft Oskar Kanehls, des Herausgebers des "Wiecker Boten" und bekommt durch diesen Kontakt zu Franz Pfemferts avantgardistischer Zeitschrift "Die Aktion". Hier erscheinen noch vor dem Krieg seine ersten Gedichte, die Anklänge an die Lyrik Georg Heyms und Alfred Lichtensteins aufweisen.

Mit Kriegsbeginn 1914 wird Plagge sofort Soldat - aber er hat den Krieg nicht gefeiert wie die meisten anderen Dichter. Von Anfang an beschreibt er den Kriegsalltag mit besonderer Distanz. Seine Verse sind nüchtern registrierende Beobachtungen ohne das sonst zeittypische Pathos, ohne groteske Überhöhung, ohne Traditionskorsett, ungereimt, sehr frei. Als lyrischer Kriegsberichterstatter findet Plagge die ihm eigene Form, und er markiert bereits im Ersten Weltkrieg eine frühe Grenze des Expressionismus zur Neuen Sachlichkeit. Dabei ist Plagges Sprache nie blutleer, er verfügt über eine bildhafte Beobachtungsgabe und einen packenden Zugriff. Die Gedichte lesen sich heute noch frisch, und die Sekundärliteratur steckt voller Witz und sympathischer Ironie. Sein großer Aufsatz "Dämmerung der Kunst" (1918) gehört in jede Expressionismus-Anthologie!

Nachdem er den ganzen Krieg überlebt hat, meistens an der Front, ertrinkt Plagge am 16. September 1918 beim Baden. Plagge hat zu Lebzeiten kein Buch veröffentlicht. Trotzdem ist er allein durch seine Beiträge in Zeitschriften und Anthologien im Gedächtnis geblieben und auch nach dem Zweiten Weltkrieg immer wieder einmal nachgedruckt worden. 1992 erschien ein erster kleinerer Auswahlband.

Peter Salomon, Ostfriesische Landschaft.de – Regionalverband für Kultur, Wissenschaft und Bildung.

Bild: Portrait des Dichters um 1911

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