Nächtliche Begegnung
Wenn wir nächtlich uns begegnen,Sind wir so fern, so nah,
Daß sich unsre Seelen segnen,
Auch wenn mich dein Blick nicht sah.
Ich saß hinter meinem Glase,
Eingesargt in meinen Gram;
Zärtlich deine Vogelnase
Vom Liköre Abschied nahm.
Zwischen uns die fremden Säufer,
Dummheit, Weiber, Lärm und Rauch,
Die Verkauften und die Käufer,
Und vielleicht ein Heilger auch.
Keiner kann sich keinem geben,
Einsamkeit geht auf dem Strich,
Und man lebt sich um sein Leben.
So entschwandest du für mich.
Sachte fing es an zu regnen,
Als ich traurig heimwärts kroch. . .
Wenn wir nächtlich uns begegnen,
Lieben wir uns schließlich doch.
Max Herrmann-Neiße, geboren am 23. Mai 1886 in Neiße, Schlesien; gestorben am 8. April 1941 im Exil in London. Dieses Gedicht schrieb er für seinen Freund Joachim Ringelnatz.
Das Bild ist von Umberto Boccioni (1882 - 1916)
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