Donnerstag, 26. Januar 2023

Arno Nadel: Frühling / An Anna

 


Frühling

Zwei spitze Kirchtürme blitzen hoch im Blauen,
Zwei stille Mädchenaugen schauen aus dem Fenster,
Und hinter den weit weiten Bergen sitzt der Inder,
Duftende Blumen legt er zu Gottes Füßen nieder.
So ist die Welt,
Wenn der Frühling durch die Lüfte dringt,
So ist heut die Welt.

Sing, o Herz, sing lustvergessen,
Das Haus ist leer, der Strom besessen,
Und die wilden Vögel stecken die Köpfe ins Wasser,
Daß der feine Spiegel platzt.
So ist die Sehnsucht,
Wenn der Frühling in den Blüten blinkt,
So ist heut die Sehnsucht.

An Anna

Solch eine Stunde soll man nicht vergessen,
Die wunderbar emporhebt schwarze Grenzen
Von scheinenden, vergänglichen Gebilden. -

Wir waren gut gestimmt an jenem Abend.
Das Essen schmeckte wie an einem Feste,
Und kalt und klar wie selten war der Wein.

Wie das Gespräch sich drehte, wer behält es;
Ich sah dich an, und plötzlich überströmte
Unfaßbare Erinnerung dein Antlitz.

Du sprachst von heimlichen, gedämpften Klängen,
Die öfter, leise rufend, dir ertönten,
Wenn unerklärlich dich die Welt bedrängte.

Und wie ich manchmal dir als Ding erscheine,
Und du mich prüfend, wie zum Spiele nur,
Betrachtest und darüber hart erschrickst.

Und große Straßen seien dir bekannt,
Die du mit wachen Augen nie gesehn,
Wo altbelebte Häuser friedlich grauen.

Daß du zuweilen vor Entsetzen weintest,
Wenn deinem Blick dein eignes Bild begegnet,
Dein Selbst, als trät es aus dem letzten Spiegel.

Wie du so sprachst, als wärs zum erstenmal,
Da sah ich dich durch Ewigkeiten wandeln;
Doch immer wieder trafen wir uns beide.

Und immer wieder mußtest du mir lächeln,
Am Fenster dort, im Haus, das nun verschwunden.
Dann gingen wir zusammen viele Wege.

Wie so der Tag aus deinen Augen träumte,
Ich wollte manches fragen, doch du sahst es
Und nahmst den Ernst hinweg mit gutem Wort.

Da küßt ich dir die Fremde von der Stirn,
Und aber warst du meine lustige Dame,
Mit der ich kurz zuvor so froh gespeist.

So freundlich jener Abend sich gewendet,
Ich werde seiner Dämmerung erfüllt sein,
Weil du geredet wie zum erstenmal.

Aus: Um dieses alles - Gedichte von Arno Nadel München und Leipzig bei Georg Müller 1914

Arno Nadel, Schriftsteller Musikwissenschaftler und Maler, sein literarisches Werk besteht aus Gedichten und Theaterstücken. Geboren wurde er am 5. Oktober 1878 in Wilna, am 12. März 1943 wurde er in das KZ Auschwitz deportiert, wo er im gleichen Monat noch verstarb.

Seit 1903 war er Mitarbeiter der Zeitschrift Ost und West; er schrieb auch für die Zeitschrift Der Jude, der Vossischen Zeitung und dem Vorwärts.

Ab 1916 war er Chordirigent der Synagoge am Kottbusser Ufer und bald musikalische Führungspersönlichkeit und gefragte Autorität für alle Synagogen Berlins. Obwohl seine beiden Töchter emigrierten, blieb Arno Nadel 1933 in Deutschland.

Das Bild ist von August Macke (1887 – 1914)



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