Mittwoch, 25. Januar 2023

Ilse Weber: Die Schafe von Lidice

 


Die Schafe von Lidice

Flockige, gelbweiße Schafe trotten die Straße entlang.
Zwei Hirtinnen folgen der Herde, durch die Dämmerung tönt ihr Gesang.
Es ist ein Bild voller Frieden, und doch bleibst du, Eilender, stehn
Als fühlst du den Hauch allen Todes grausig vorübergehen.

Flockige, gelbweiße Schafe, sie sind der Heimat so fern,
verbrannt sind ihre Ställe, getötet ihre Herrn.
Ach, alle Männer des Dorfes, sie starben den gleichen Tod.
Ein kleines Dorf in Böhmen, und soviel Unglück und Not.

Verschleppt die fleißigen Frauen, die sorgsam die Herde betreut,
verschollen die fröhlichen Kinder, die sich an den Lämmern erfreut.
Zerstört die kleinen Häuser, in denen der Friede gewohnt.
Ein ganzes Dorf vernichtet, das Vieh nur gnädig verschont.

Das sind die Schafe von Lidice und trefflich am Platze hier.
In der Stadt der Heimatlosen, das heimatlose Getier.
Umschlossen von einer Mauer, durch grausamen Zufall gesellt,
das gequälteste Volk der Erde und die traurigste Herde der Welt.

Die Sonne ist untergegangen, der letzte Strahl versinkt.
Und irgendwo bei den Kasernen ein jüdisch Lied erklingt.

Ilse Weber, geborene Herlinger, wurde am 11. Januar 1903 in Witkowitz, Österreich-Ungarn; sie wurde am 6. Oktober 1944 im KZ Auschwitz-Birkenau ermordet.

Als Ilse Herlinger schrieb sie mit 14 Jahren erste Kindermärchen und kleine Theaterstücke für Kinder. Diese wurden in verschiedenen deutsprachigen Zeitschriften veröffentlicht. 1930 heiratete sie Willi Weber. Am 6. Februar 1942 wurde sie von Prag in das Ghetto Theresienstadt deportiert. Dort arbeitete sie als Krankenschwester in der Kinderkrankenstube.

Im Lager entstanden weitere Gedichte. Bekannt wurde ihr Lied, „Ich wandre durch Theresienstadt“. das Ilse Weber für ihren Sohn Hanuš geschrieben hat, „den sie vor Ausbruch des Krieges in Prag in einen Zug gesetzt hatte, in der Hoffnung, ihn eines Tages wiederzusehen“. Er wurde mit in Prag organisierten Kindertransporten nach England verschickt und entkam der Vernichtung. Seine Mutter und sein Bruder Tomas („Tommy“, geboren 1934) wurden am 6. Oktober 1944 im KZ Auschwitz ermordet. Beim Gang in die Gaskammer soll Weber für ihren Sohn und die anderen Kinder das von ihr komponierte Schlaflied Wiegala gesungen haben.

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