Mittwoch, 25. Januar 2023

Lessie Sachs: Verschwendung / Lassen wir es nun dabei bewenden

 


Verschwendung

Ich sah die hingeneigte, ganz hingeneigte Wendung
Einer alten, sehr alten Frau zu einem jungen Kind.
In dem betagten Gesicht sah ich jene Verschwendung,
Zu der nur sehr erfahrene Menschen imstande sind.

Antlitz, Blick und Gefühl fragt nicht, was ihm selbst verbliebe,
Das ist die Würde des Herzens, welches an sich nicht denkt.
Verschwendung bedeutet die grösste Noblesse der Liebe,
Zuneigung, welche nicht fordert, die grandios sich verschwendet.

Aus: Lessie Sachs Collection 1

Lassen wir es nun dabei bewenden

Ach, Gefährte meiner frühen Jahre,
Und auch vieler Träume, vieler Träume Ziel.
Unsre Bindung hat das Sonderbare,
Daß sie schwebend ist; halb Ernst, halb Spiel,
Teils zu wenig, und zum Teil zu viel,
Und, dass ich nicht weiss, und nie erfahre,
Ob ich Dir gefiel, ob nicht gefiel.

Sind wir nicht verloren, gleich den Sternen, ...
Ach, man lebt in unbekanntem Raum.
Während wir uns nähern und entfernen,
Rühren wir nur an der Dinge Saum.
Denn wir wissen nichts; wir wissen kaum,
Und mir scheint, daß wir es niemals lernen,
Ob wir wahrhaft leben, ob im Traum.

Lassen wir es nun dabei bewenden,
Daß man uns die Lösung vorenthält.
Wir erkennen: was man auch in Händen,
Glaubt zu halten: dass man es nicht hält.
Und, indes man wechselnd steigt und fällt,
Sind wir den gefährlichsten Geländen
Ohne Sicherung anheimgestellt.

Aus: Tag- und Nachtgedichte von Lessie Sachs
Ausgewählt und eingeleitet von Heinrich Mann
New York City 1944
Printed in U.S.A. Zeidler Press (Josef Wagner)

Am 5. 9. 1897 wird die Dichterin Lessie Sachs in Breslau geboren. Sie besuchte zunächst die Kunstgewerbeschule in ihrer Heimatstadt Breslau, dann in München. Dort wird sie wegen pazifistischer Aktionen in der Zeit der Räterepublik vorübergehend inhaftier. Sie kehrt nach Breslau zurück und leitet dort ein Atelier für Seidenmalerei.

Ihre Gedichte und Prosatexte erscheinen in Zeitschriften wie dem Simplizissimus, Uhu und der Vossischen Zeitung, als auch in Anthologien. 1933 heiratet sie den 12 Jahre jüngeren Breslauer Pianisten Josef Wagner.

Im Dezember 1932 präsentiert Josef Wagner in Breslau seine Kompositionen zu Gedichten von Lessie Sachs.

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten kann Josef Wagner seinen Beruf nicht mehr ausüben; Gedichte von Lessie Sachs dürfen nicht mehr erscheinen. 1937 verlassen beide Deutschland und emigrieren nach Amerika.

Über die wenigen Jahre bis zu ihrem frühen Tod 1942 gibt es kaum biographische Hinweise. In den USA schreibt Lessie Sachs für die deutschsprachige jüdische Wochenzeitung Aufbau.
Lessie Sachs stirbt Anfang 1942 nach langjähriger Krankheit.

Zwei Jahre später veröffentlicht das von Friederike Zweig geleitete "Writers Service Center" posthum die Tag- und Nachtgedichte, eine kleine Auswahl aus ihrem lyrischen Werk.

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