Dienstag, 24. Januar 2023

Iwan Goll: Absolution

 


Absolution

Im dritten Jahrtausend kehrte Orpheus wieder.

Eine Kathedrale war ihm gebaut. Am roten Altar brannte
das Herz der Menschheit. Aus den knieenden Dielen blühten
Tulpen. Von der Erde quälten sich liebende Pfeiler los.

Feuerengel stürzten durch die gemalten Fenster. Asche schlug
mit glühenden Flügeln empor. Mensch schrie aus humpeln-
dem Elend auf.

Die Menschen hatten Jahrhunderte gewartet. Orpheus Kunst
war ihr Glaube geworden. Sie hatten sich geschlagen. Sie
hatten beten gelernt.

O nun riß sich jeder vom Alltag los. Orpheus brauchte nicht
mehr hinabzusteigen. Orpheus brauchte sich nicht mehr
umzublicken.

Alle, alle folgten seinem Gesang.

Die alte Dame, spitze Nase, das Ledertäschchen sorgsam
umfaßt in zerrissenen Handschuhn.

Der russische Sprachlehrer, noch an einem Stückchen Schoko-
lade vom Abendessen kauend.

Der Kommis, geflüchtet vom roten Plüschsofa einer Dirne:
von der Kreuzigung an die irdische Liebe.

Studenten aus den Lesesälen, wo sie die Zeit aus der Zeitung
gierig gefressen.

Kleine Mädchen fielen wie Veilchenbuketts in die Menge.

Arbeiter, in dicken Nagelschuhn, wuchsen aus den Säulen
stark.

Eine Witwe stahl sich vom Bett des kranken Knaben los und
flatterte irr im Wind der Menschen.

Der blonde Friseur hatte die schönste Krawatte an. Ein
Liftboy, in grüner Livree, stand am Tor, als öffnete er den
Schlag zur Himmelsarche.

Schuster hinkte herein. In seiner schwarzen Brille loderte der
ganze goldene Dom auf.

Die Kassiererin des Warenhauses hatte sich mit kleinem rosi-
gem Parfüm betüpfelt.

Zylinder in weißen Gamaschen monokelten herein.

Noch eine alte Dame. Die Schulknaben. Ein rothaariger
Zollbeamter.

Alle, alle. Aus den kalten Mansarden. Aus den rauchigen
Speisehallen. Aus den Werkstätten, Büros, Eßzimmern. Von
der Straße, vom Bahnhof, aus den Wartesälen.

Sie kamen alle. Sie drängten sich zu spät herein, gingen auf
den Fußspitzen.

Da ging ein Ton über die Welt.

Aus der Asche der Menschenbrust stieg ein Phönix durch
die Kathedrale.

Dieser Ton: ein tiefgoldenes Schluchzen: Ein Gewölbe tut sich
auf. Eine Geige setzt sich auf die Schultern des Bettlers. Eine
Hand lächelt dem Kranken. Eine weiße Taube zeigt sich dem
Blinden.

Der Ton fiel aus der Kuppel des Himmels: ein ferner Stern,
der zwei Hügel bekam und um die Erde flatterte wie der
königliche Saturn.

Dieser Ton war der Atem der Erde. Das ewige Geräusch in
den Menschen.

Das machte, daß alle Brüder und Schwestern waren, denn
sie stammten von demselben Ton ab.

Nie wieder konnten sie ihn vergessen. Derselbe Ton, der aus
schüchternen Klavieren im Sommer auf die Straße fällt - den
im Winter die Kinder zu Weihnacht stammeln.

Dieser Ton, Stimme der Narzissen, wenn Sonnenaufgang
über die Hügel tastet. Und abends die Klage des blutigen
Mohns über den verlassenen Äckern.

Dieser Ton - der ein Schrei war und ein Stöhnen. Die
Geburt und der Tod. Dieser Ton der Offenbarung.

Orpheus sang.

Die Menschen hatten sich alle geöffnet. Die Kathedrale
schimmerte von fließendem Blut. Durch Kleid und Hemd
zeigte ein jeder seines Herzens leuchtenden Gral.

Allen Geknechteten klirrten die Ketten. Alle Gottlosen hör-
ten den Himmel rauschen. Alle glaubten, glaubten, glaubten.

Die Schuld war von ihnen gefallen wie Schlaf am Morgen
von den Augen. Den Alltag hatte draußen Regen wegge-
schwemmt. Ewiges Fest bereitete sich vor.

Keiner war mehr allein. Nie wieder allein. Die Völker aufer-
standen in diesem kristallenen Dom. Der Himmel war nie-
dergekommen. Die Menschen küßten sich.

Fern in Nacht und Geschichte lag die tägliche Unterwelt.
Orpheus der Befreier sang. Er führte die Menschheit hinaus
zur Absolution.

Iwan Goll, aus: Der neue Orpheus - eine Dithyrambe, Verlag der Wochenschrift "Die Aktion" Berlin – Wilmersdorf 1918

Yvan Goll (auch Iwan oder Ivan Goll, eigentlich Isaac Lang; * 29. März 1891 in Saint-Dié, Frankreich; † 27. Februar 1950 bei Paris)

Das Bild ist von Wassily Kandinsky (1866 - 1944) 

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