Dienstag, 24. Januar 2023

Lili Grün: Schüchterner Flirt mit dem vermummten Herrn

 


Schüchterner Flirt mit dem vermummten Herrn


Ach, glaube nicht, ich dächte, man könnte dich bestechen!
Was hätt‘ es für einen Sinn, gerad‘ mit dir über das Leben
zu sprechen.

Du ahnst ja nicht, wie schön es ist, von dieser Welt zu sein!
Es ist so schön, ins Kino zu gehn,
Um einen kitschigen Tonfilm zu sehen.
Schön ist es, im Gras zu liegen
Und zuzusehen, wie die Maikäfer fliegen,
Und es ist so lieb, wenn uns ein Mann in den Armen hält,
Und sein Mund, der uns küsst, ist die ganze Welt…

Ich weiß ja doch, daß es dich einmal gibt.
Drum, wenn du kommst, komm nicht als Feind!
Fall‘ mich nicht tückisch von rückwärts an,
Komm nicht als Unfall in der Eisenbahn,
Komm nicht als Räuber aus dem Hinterhalt,
Und vor allen Dingen: komm nicht zu bald.

Und wenn du kommst, leg deine kühle Hand
Zuerst auf den Verstand.
Denn ich will von dir nichts wissen.
Und mit dem Herzen geh‘ ein wenig freundlich um,
Mach es nicht bös!
Es war, solang es lebte, schon nervös!
Und es war immerzu verliebt.
Es fürchtet dich und deinen kalten Kuß,
Und es wird nie verstehn,
Daß es dich geben muß.

Aus: Lili Grün - Mädchenhimmel! Gedichte und Geschichten, gesammelt, herausgegeben, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Anke Heimberg, AvivA Verlag, Berlin, 2014

Lili Grün wurde am 3. Februar 1904 als Elisabeth Grün in Wien geboren. Nach dem Tod ihrer Eltern ging sie Ende der 1920er Jahre nach Berlin, wo sie 1931 zusammen mit Freundinnen und Freunden aus der Künstlerszene ein literarisch-politisches Kabarett eröffnete. Zurück in Wien verarbeitete sie ihre Berlin-Erlebnisse in ihrem Roman "Alles ist Jazz", der erstmals 1933 unter dem Titel "Herz über Bord" im Paul Zsolnay Verlag erschienen ist. Mit der nationalsozialistischen Okkupation Österreichs im März 1938 hatte Lili Grün als jüdische Schriftstellerin schlagartig keine Möglichkeit mehr zu publizieren. Verarmt und lungenkrank blieb ihr die Emigration ins rettende Ausland verwehrt. 1942 wurde sie aus Wien deportiert und am 1. Juni 1942 mit anderen Opfern, darunter die Dichterin Alma Johanna Koenig, im weißrussischen Vernichtungslager Maly Trostinec ermordet. 

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