Dienstag, 24. Januar 2023

Max Herrmann-Neiße: Vorstadtmorgen / Das Wunder

 


Vorstadtmorgen

Ich bin ein Morgen, den die Vorstadt schenkt:
Wo Linden duften auf den leeren, stillen,
Verschlafnen Straßen um sehr weiße Villen,
Und sich ein Fremder laß zum Bahnhof lenkt.

Wo sich zerzauste Mädchen scherzend scharen
Um eines Milchmanns Wagen und ein Kind
Vom Bäcker kommt und Hunde sich geschwind
Und ganz gehässig in die Beine fahren.

Und Burschen gähnend ihre Pferde striegeln,
Und grüne Jalousien die Welt versiegeln,
Und kleine Gärten vor den Läden blühn -

Wo Arbeiter sich zu Fabriken schieben,
Und eine ferne Uhr schlägt säumig sieben,
Und nichts als grelles Rot und Weiß und Grün!


Das Wunder

Der rote Schein von einer Pufflaterne
Fließt wie ein Teppichstreifen übers Pflaster,
Aus einer Bibelstunde tapst ein Paster
Und spuckt ins Rinnsteinwasser Pfirsichkerne.

Ein Trunkner steht ganz hell und zählt den Zaster,
Gestalten drücken sich um die Kaserne,
Ein Auto schwirrt verpuffend in die Ferne,
Und in der Luft liegt lockend Rausch und Laster.

Umschlungne lehnen dunkel in den Toren,
Ein Droschkenkutscher fährt zum letzten Zug,
Und in die Pfützen fallen Fahrradlichter -

Und irgendwo wird jetzt ein Kind geboren,
Das eine Jungfrau sieben Monat trug,
Das wird ein Held, Mönch, Narr, Lump, Krämer oder Dichter.

Max Herrmann-Neiße, aus: Sie und die Stadt, Stimmungen der Stadt, zweiter Teil des Gedichtbandes, S. Fischer Verlag, Berlin 1914

Max Herrmann-Neiße, geboren am 23. Mai 1886 in Neiße, Schlesien; gestorben am 8. April 1941 in London, Deutscher Dichter, von den Nationalsozialisten ins Exil getrieben, in dem er 1941, wurzellos, starb.

Das Bild ist von Hans Baluschek (1870 - 1935) 

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