Dienstag, 24. Januar 2023

Friedrich Christoph Heinle: Abend am Fenster / Es steigt der Tag. . .

 


Abend am Fenster

Licht umspielten dich Gedanken –
Schüsse dröhnen dumpf und nah,
Dass die Fenster klirrend wanken:
Tiefverdunkelt stehst du da:

Leise hellen sich die Scheiben,
Drin die Lampe mild erscheint,
An verschwommnen Schatten treiben
Kleine Lichter wie verweint.

* * *

ES STEIGT DER TAG, aus wirrem Traum, befreit,
Zu schlanker Zier, gleich angeschlagnem Ton
Der sich erhält, dem Ohr verloren schon,
Und lehnt uns süß in bunte Helligkeit,

Indes wir trauern um der Nächte Tod
Wo zwischen Bäumen in verglastem Strahl
Die Stadt, gekrönte, Funken sonder Zahl
Und flammender Basteien Gipfel bot.

Wir schlafen lang ins tiefe Abendrot
Und gehen aus, bis in die kühlste Flut
Der Leib versinkt und nun getröstet ruht
In leichter Wellen mildem Spiel und Tod.

Friedrich Christoph Heinle, aus dem Nachlass von Walter Benjamin

Christoph Friedrich Heinle, geboren am 1. März 1894 in Mayen, gestorben am 8. August 1914 in Berlin

Heinle begann ein Studium der Philologie in Göttingen und setzte es im Sommersemester 1913 in Freiburg im Breisgau fort. Dort begegnete er Walter Benjamin, mit dem er bis zu seinem Tod, trotz mancher Schwierigkeiten und Verstimmungen, eng befreundet blieb.
Heinle und Benjamin arbeiteten für den Anfang, die Zeitschrift der Jugendbewegung um Gustav Wyneken. Zum Wintersemester 1913/14 wechselten sie an die Universität Berlin. Wie schon in Freiburg waren sie auch hier gemeinsam in der Freien Studentenschaft tätig, besonders in deren „Abteilung für Kunst und Literatur“. Heinle und Benjamin traten gemeinsam auf Veranstaltungen der expressionistischen „Aktion“ auf. Einzelne Gedichte Heinles wurden 1912 und 1913 publiziert. Wenige Tage nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs und wahrscheinlich aus Verzweiflung über dessen vorhergesehene Folgen nahmen sich Christoph Friedrich Heinle und seine Freundin Friederike (Rika) Seligson durch Gas das Leben.

Walter Benjamin verwahrte Heinles Nachlass und bemühte sich nach dem Tod des Freundes viele Jahre lang vergeblich um eine Veröffentlichung. (Wiki)
Walter Benjamin, geboren am 15. Juli 1892 in Berlin; gestorben am 26. September 1940 in Portbou, Spanien, Philosoph, Kulturkritiker und Übersetzer,
1933 entzog er sich als säkularisierter Jude der NS-Herrschaft und ging ins Pariser Exil. Nach der Besetzung Frankreichs durch die deutschen Truppen nahm er sich auf einer missglückten Flucht in der spanischen Grenzstadt Portbou das Leben.

Das Bild ist von Mikalojus Konstantinas Ciurlionis (1875 - 1911) 

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