Dienstag, 24. Januar 2023

Iwan Goll: Johann Ohneland der Doppelgänger

 


Johann Ohneland der Doppelgänger

Ich bin der Eine und das Doppelwesen
Herz-König aufrecht und verkehrt zumal
Verlust-Gewinner Tag-Nacht und Schwarz-Weiß
Ich bin das Ich und schon Erinnerungsmal

Ich bin der Augenblick und seine Doppelsendung
Mein Wort verfliegt und seine Wahrheit bleibt
Fluß sag mir: bin ich Körper oder Blendung?
Bin ich die Hochzeit zwischen Ja und Nein?

Denn auch der Fluß ist doppelt: du siehst Leib und Seele
Netz deine Hand – liebkos den Himmelsraum
Es blüht der Mond inmitten Algenzweigen
Es tummelt sich der Fisch im Feuerschaum

Mensch mit zwei Lippen Menschen mit zwei Gesichtern:
Bald Mönch bald Mörder je wie ich mich wende
Mein Heldenrumpf trägt einen schwachen Nacken
Und meine Frauenbrust dient meine Manneslende

Was tatst du rechte Hand mit deiner linken?
Vom frühesten Rosa bis zur späten Purpurzeit?
Wie hat der Fluß entschieden? Ach der blinde
Fluß langweilt sich in der Unsterblichkeit

Es treibt die Zeit die grünen Wogenherden
Vom Fleischgestade bis zum Traumasyl
Ich schaukle tief im Wasser meine Wolke
Gewinne mir Verlust im Doppelspiel

Iwan Goll, geboren am 29. März 1891 in Saint-Dié, Frankreich, gestorben am 27. Februar 1950 in Paris, „hat keine Heimat: durch Schicksal Jude, durch Zufall in Frankreich geboren, durch ein Stempelpapier als Deutscher bezeichnet.

Iwan Goll hat kein Alter: seine Kindheit wurde von entbluteten Greisen aufgesogen. Den Jüngling meuchelte der Kriegsgott. Aber um ein Mensch zu werden, wie vieler Leben bedarf es. Einsam und gut nach der Weise der schweigenden Bäume und des stummen Gesteins: da wäre er dem irdischen am fernsten und der Kunst am nächsten“. (Iwan Goll)

Das Besondere in Leben und Werk dieses Schriftstellers wird in seinen Gedichten, Dramen, Romanen und publizistischen Arbeiten deutlich: aus ihnen spricht die Tragik eines Daseins, das sich nicht erfüllt hat und nicht erfüllen konnte. Zwar gelang es Goll immer wieder, den Anschluß an die bewegenden künstlerischen Strömungen seiner Zeit zu finden, doch wurde er nie zu den ganz „Großen“ gezählt. Unsere Auswahl vermittelt einen Überblick über das literarische Schaffen von 1916-1948, ergänzt wird sie durch Briefe – lebendige Zeugnisse vom Auf und Ab eines an Erfolgen und Niederlagen reichen Lebens.

aus: Ausgewählte Gedichte, Verlag Philipp Reclam jun. Leipzig, Klappentext, 1982

„Vergebens in den Kohleschächten
Wollten die Gleichheit wir errechten.
Vergebens in den Nachtkavernen
Wollten wir Menschenwürde lernen.
Vergebens in zwielichten Schenken
Wollten wir Liebe groß verschenken.
Vergebens in Versammlungsreden
Verlangten wir das Licht für jeden.
Nun sagen sie, beim Brudermorden
Sei’n wir zu guten Bürgern worden,
Und gönnen uns den Ruhm der Narren,
Dieweil sie Massengräber scharren.“

Aus: „Chor der Proletarier“ 

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