Dienstag, 24. Januar 2023

Kurd Adler: Betrachten

 


Betrachten

Ganz lauernd stehen wir auf hohem Berg
und sehen Deutschland links und Frankreich rechts;
und überall ist großes, stilles Land
mit weichen Wäldern und verblinkten Dörfern.
Tief eingegraben sind wir wie die Tiere,
die Beute bergen. Der Geschütze
blauschwarze Mäuler glotzen stumpf und stier.
So ahnungslos ist aller Dinge Schein,
dass erst der runde, dumpfe Schall von drüben
uns bitter denken lässt, dass wir Zerstörer sind.
Hoch hebt sich ein Gefühl
von jener Liebe zu dem stillen Lied,
dem Sonntagmorgen und Sebastian Bach.
Ein Augenblick! Und schon ist alles grau.
Fünf Männer rennen wild um ein Geschütz,
Ich denke lächelnd der Begeisterung
der Morgenblätter, die wir nicht mehr lesen.

Über Kurd Adlers Leben ist kaum etwas bekannt. Er kämpfte als Soldat im Ersten Weltkrieg und schilderte in seinen Gedichten die Welt der Schützengräben und die kurzen Momente von Glück, die die Soldaten bei Fronturlauben erlebten. Die Gedichte wurden von Franz Pfemfert in seiner Anthologie Die Aktions-Lyrik. 1914-1916 veröffentlicht; sie waren ab 1915 in Pfemferts Zeitschrift „Die Aktion“ erschienen (unter anderem Das Geschütz, Ruhe an der Front und Betrachten). 1918 erschien eine Sammlung der Gedichte.

Kurd Adler wurde am 6. Juli 1916 bei Kampfhandlungen an der Westfront getötet.

Die Reihe VERSENSPORN - Heft für lyrische Reize hat ihr Heft Nr. 43: Kurd Adler gewidmet.

Das Bild ist von Félix Vallotton (1865 - 1925) 

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